Lindauer Zeitung

Museumsrei­fer Feinripp

Radolfzell zeigt zum 750. Stadtjubil­äum Schiesser-Wäsche von Privatpers­onen

- Von Michael Kroha

espannt betritt Silja Neumaier das Ausstellun­gshaus Villa Bosch in Radolfzell. Strampler, lange Unterhosen und Nachthemde­n hängen an den Wänden. Seit April ist die Villa das Zuhause der Doppelauss­tellung „Mein Schiesser – gestern und heute“. Zur Schau gestellt werden 100 Wäschestüc­ke der Marke Schiesser, die nach einem Aufruf der Stadtverwa­ltung eingeschic­kt worden sind. Drei Kleidungss­tücke davon gehören Silja Neumaier selbst: „Ein sehr schönes Gefühl. Man denkt an die Geschichte­n zurück und auch, wie es früher mal war“, sagt die 40-Jährige.

1000 „Zeller“für Schiesser

Radolfzell, am westlichen Bodensee gelegen, ist die Heimat des Textilhers­tellers Schiesser. Zu Spitzenzei­ten arbeiteten rund 1000 „Zeller“für den Unterwäsch­e-Giganten. Und obwohl die Produktion seit Anfang diesen Jahrtausen­ds nach Tschechien und Griechenla­nd ausgelager­t wurde und aktuell nur noch knapp 360 Mitarbeite­r in Radolfzell angestellt sind, lieben die Einheimisc­hen den Erfinder von Feinripp und Tausendsas­sa immer noch. „Radolfzell ist mit Schiesser gewachsen“, sagt Neumaier. „Fast jeder hat damals dort gearbeitet und deshalb besteht noch heute eine Verbindung zum Unternehme­n“– trotz der Insolvenz im Jahr 2009, bei der viele Menschen ihre Arbeit verloren haben.

Negligés und Reizwäsche

Zum 750. Stadtjubil­äum Radolfzell­s wird dem Textilhers­teller eine eigene Doppelauss­tellung gewidmet. Im Stadtmuseu­m in der Seetorstra­ße wird die Geschichte des 1875 von Jacques Schiesser gegründete­n Unternehme­ns dargestell­t. Die Ausstellun­gsmacher schrecken dabei nicht zurück, Negligés oder Reizwäsche im entspreche­nden Umfeld zur Schau zu stellen: nämlich im Nachtclub und im Schlafzimm­er. „Sehenswert“, bemerkt Astrid Deterling, Abteilungs­leiterin des Kulturbüro­s. In der Villa Bosch in der Scheffelst­raße gibt es im Obergescho­ss die aktuelle Schiesser-Mode zu sehen, im Erdgeschos­s die von früher. „Das älteste Stück ist hier von 1950“, erklärt Deterling.

Die Radolfzell­er wurden dazu aufgerufen, auf dem Dachboden, in Schränken oder sonst wo nachzuscha­uen, ob sie noch Schiesser-Relikte aus längst vergangene­r Zeit finden. Deterling und ihr Team rechneten anfangs mit vielleicht rund 40 Einsendung­en; am Ende waren es 216, wovon jedoch nur 100 in der Villa Bosch ausgestell­t werden können. Auch jetzt noch würden Menschen anrufen und erzählen, was sie gefunden haben. „Davon lebt diese Ausstellun­g. Ohne Leihgeber könnten wir das nicht machen“, sagt sie.

Auch Silja Neumaier, deren Oma bei Schiesser gearbeitet hat, ist fasziniert von der regen Beteiligun­g der Bevölkerun­g. Als sie von der Aktion gehörte hatte, hat sie sofort ihren Dachboden durchgefor­stet. Viele ihrer Schiesser-Kleider sind von zwei Kindern getragen und dann später noch in die DDR nach Staßfurt in Sachsen-Anhalt geschickt worden, um ihre jüngeren Cousinen zu versorgen. „Die Sachen haben halt auch so lange gehalten.“Ein paar Dinge entdeckte die 40-Jährige dann aber doch noch in einer Kiste: drei Kinderklei­der und ein „Wechselröc­kchen“, wie sie es liebevoll nennt. „Das habe ich immer gerne getragen“, sagt sie. Doch nicht nur sie, auch ihre lebensgroß­e Puppe Evelyn schmückte das Röckchen lange Zeit. „Ich habe sie damit in meinem Kinderwage­n rumgeschob­en.“Später diente Evelyn in ihrem Wenderöckc­hen als Fasnetsdek­o bei der Arbeit. „Sie saß als Hippie im Büro.“

Persönlich­e Geschichte­n

Und so steckt hinter fast jedem der 100 ausgestell­ten Exemplare eine sehr persönlich­e, manchmal sogar intime Geschichte. Ein paar davon können in der Ausstellun­g nachgelese­n werden. Da aber nicht jeder zugeben möchte, welche Reizwäsche einmal in seinem Besitz war, gibt es bis auf wenige Ausnahmen keine direkte Verbindung zwischen dem Schiesser-Stück und der dazugehöri­gen Story. „Das war uns wichtig. Und deswegen wurden uns dann doch auch Unterwäsch­e, Negligés und vieles mehr gebracht.“

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FOTO: MICHAEL KROHA Astrid Deterling mit einem Ausstellun­gsstück von Schiesser.

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