Jugend-Sinfonieorchester berührt tief emotional
Spontaner Applaus nach dem dritten Satz zeigt, wie mitgerissen das Publikum beim Konzert in St. Stephan ist
LINDAU - Nicht nur der Faun und der Ochse auf dem Dach, sondern auch Publikum und das gesamte Konzert wären baden gegangen, hätte das Kulturamt darauf gesetzt, das Konzert mit dem Jugend-Sinfonieorchester Aargau auf der Wiese der Lindauer Spielbank veranstalten zu können. Zum Glück glaubte den Verantwortlichen aber den Auguren und verlegten rechtzeitig die als Open Air gedachte Premiere dieses Jugendorchesters in die Kirche St. Stephan – was dem Publikumszuspruch keinen Abbruch tat. Die Kirche füllte sich sehr gut, unter den Besuchern waren alle Altersstufen vertreten. Vor allem die älteren Jahrgänge dürften mit den Sitzgelegenheiten der Kirche sehr glücklich gewesen sein.
Doch zum Konzert selbst. Das Programm, das sich das Orchester für diese Arbeitsperiode ausgesucht hatte, passte durchaus in das musikalische Rahmenprogramm zur PaulKlee-Ausstellung. Klee, selbst versierter Geiger, ließ sich in seiner Malerei bekanntlich musikalisch motivieren. Zeitlebens schwankte er selbst zwischen diesen beiden Ausdrucksformen hin und her. Da passten die farbenfrohen Werke, Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune und Darius Milhauds Le boef sur le toit bestens, abgerundet von Peter Tschaikowskis Sinfonie Nr. 6, der „Pathétique“.
Nun sind das nicht unbedingt Werke, die ein Jugendorchester mal eben so aus dem Ärmel schüttelt, sondern höchst anspruchsvoll. Das Aargauer Jugendorchester ist dabei kein festes Ensemble, sondern trifft sich gerade zweimal pro Jahr, um in einer Woche ein Programm zu erarbeiten und dann damit auf eine kleine Tournee zu gehen. Dieses Mal starteten die jungen Schweizer damit in Lindau.
Der künstlerische Leiter und Dirigent des Orchester, Hugo Bollschweiler, hatte die jungen Musiker im Alter zwischen 16 und 26 Jahren zu einem respektablen Klangkörper zusammengeschweißt. Dass die Geigen personell – und damit auch akustisch – immer wieder ins Hintertreffen gerieten, lag nicht an der Qualität der Streicher, sondern eben an der Anzahl.
Zart, noch etwas schüchtern der Beginn des Abends mit dem Flötensolo zum Präludium des Fauns, der am Nachmittag vor sich hinträumt. Mit der Schüchternheit war es bald vorbei. Die Zartheit der filigranen Klänge, die Debussy hier niedergeschrieben hat, hielt jedoch genauso wie die Transparenz, die trotz der Akustik des Kirchenraums prima erhalten blieb.
Eine hervorragende Werbung für gemeinsames Musizieren ist Darius Milhauds „Le boef sur le toit“. Hier kam die Begeisterung der jungen Künstler sehr gut rüber. Was so ein Ochse auf dem Dach an Polytonalität und Polyrhythmik auslösen kann, macht Spaß, selbst beim Zuhören. So gewinnt man den Eindruck, der Ochse da oben hört aus allen Gassen verschiedenste Musiken und Gruppen, die ab und zu deutlich herauszuhören sind, dann wieder ein akustisches Mischmasch hochschicken, das von klassischen bis zu fetzigen südamerikanischen Rhythmen reicht. Gedacht war das Werk als Musik für einen Stummfilm von Charlie Chaplin. Herausgekommen ist eine Ballettmusik zu einer äußerst schrägen Handlung in einer Bar zur Zeit der Prohibition.
Musikalische Traumwelten zwischen Extremen
Da bleibt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dieser Barszene und der anschließenden „Pathétique“, der letzten Sinfonie Tschaikowskis. Dieser erklärt sich mit dem Konzertitel „Traumland“: Einerseits eine makabre Geschichte in einer Bar – die in dem Moment, da ein Polizist sie stürmt, zu einer Milchbar metamorphiert –, andererseits die zeitliche Nähe des Meisterwerks und persönliche Tragödie des russischen Komponisten, die sich einer schnellen Interpretation entziehen, dafür jede Menge an Verschwörungstheorien zulassen. Ein bizarr lustiger Traum bei dem Franzosen hier, bei dem Russen da eine Sinfonie, die durch sämtliche menschliche Tiefen und Todesahnungen wie bittersüße Träume hindurchzuführen scheint – das musikalische Traumland wird da vielfältig präsentiert.
Dieses Werk Tschaikowskis ist so stark, dass es von der Interpretation her kaum kaputtgemacht werden kann. Andererseits kann es die Menschen, Musiker wie Zuhörer, ganz tief emotional berühren. Und genau das hat das Jugend-Sinfonieorchester Aargau geschafft. Selten, dass so spontaner Applaus nach dem dritten Satz zeigt, wie mitgerissen das Publikum ist und dann, nach dem Verklingen der Schlusstöne, so lange von der Spannung getragen wird und den Beifall fast vergisst. Ein größeres Kompliment kann man nach dieser Sinfonie den Ausführenden kaum machen.
Klar, dass da kein Raum für Zugaben bleibt, außer dem Wunsch des Dirigenten und des Orchesters, wiederkommen zu dürfen und dann – hoffentlich – bei tollem Sommerwetter auf der Wiese der Spielbank das Publikum zu begeistern.