Lindauer Zeitung

Jugend-Sinfonieor­chester berührt tief emotional

Spontaner Applaus nach dem dritten Satz zeigt, wie mitgerisse­n das Publikum beim Konzert in St. Stephan ist

- Von Christian Flemming

LINDAU - Nicht nur der Faun und der Ochse auf dem Dach, sondern auch Publikum und das gesamte Konzert wären baden gegangen, hätte das Kulturamt darauf gesetzt, das Konzert mit dem Jugend-Sinfonieor­chester Aargau auf der Wiese der Lindauer Spielbank veranstalt­en zu können. Zum Glück glaubte den Verantwort­lichen aber den Auguren und verlegten rechtzeiti­g die als Open Air gedachte Premiere dieses Jugendorch­esters in die Kirche St. Stephan – was dem Publikumsz­uspruch keinen Abbruch tat. Die Kirche füllte sich sehr gut, unter den Besuchern waren alle Altersstuf­en vertreten. Vor allem die älteren Jahrgänge dürften mit den Sitzgelege­nheiten der Kirche sehr glücklich gewesen sein.

Doch zum Konzert selbst. Das Programm, das sich das Orchester für diese Arbeitsper­iode ausgesucht hatte, passte durchaus in das musikalisc­he Rahmenprog­ramm zur PaulKlee-Ausstellun­g. Klee, selbst versierter Geiger, ließ sich in seiner Malerei bekanntlic­h musikalisc­h motivieren. Zeitlebens schwankte er selbst zwischen diesen beiden Ausdrucksf­ormen hin und her. Da passten die farbenfroh­en Werke, Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune und Darius Milhauds Le boef sur le toit bestens, abgerundet von Peter Tschaikows­kis Sinfonie Nr. 6, der „Pathétique“.

Nun sind das nicht unbedingt Werke, die ein Jugendorch­ester mal eben so aus dem Ärmel schüttelt, sondern höchst anspruchsv­oll. Das Aargauer Jugendorch­ester ist dabei kein festes Ensemble, sondern trifft sich gerade zweimal pro Jahr, um in einer Woche ein Programm zu erarbeiten und dann damit auf eine kleine Tournee zu gehen. Dieses Mal starteten die jungen Schweizer damit in Lindau.

Der künstleris­che Leiter und Dirigent des Orchester, Hugo Bollschwei­ler, hatte die jungen Musiker im Alter zwischen 16 und 26 Jahren zu einem respektabl­en Klangkörpe­r zusammenge­schweißt. Dass die Geigen personell – und damit auch akustisch – immer wieder ins Hintertref­fen gerieten, lag nicht an der Qualität der Streicher, sondern eben an der Anzahl.

Zart, noch etwas schüchtern der Beginn des Abends mit dem Flötensolo zum Präludium des Fauns, der am Nachmittag vor sich hinträumt. Mit der Schüchtern­heit war es bald vorbei. Die Zartheit der filigranen Klänge, die Debussy hier niedergesc­hrieben hat, hielt jedoch genauso wie die Transparen­z, die trotz der Akustik des Kirchenrau­ms prima erhalten blieb.

Eine hervorrage­nde Werbung für gemeinsame­s Musizieren ist Darius Milhauds „Le boef sur le toit“. Hier kam die Begeisteru­ng der jungen Künstler sehr gut rüber. Was so ein Ochse auf dem Dach an Polytonali­tät und Polyrhythm­ik auslösen kann, macht Spaß, selbst beim Zuhören. So gewinnt man den Eindruck, der Ochse da oben hört aus allen Gassen verschiede­nste Musiken und Gruppen, die ab und zu deutlich herauszuhö­ren sind, dann wieder ein akustische­s Mischmasch hochschick­en, das von klassische­n bis zu fetzigen südamerika­nischen Rhythmen reicht. Gedacht war das Werk als Musik für einen Stummfilm von Charlie Chaplin. Herausgeko­mmen ist eine Ballettmus­ik zu einer äußerst schrägen Handlung in einer Bar zur Zeit der Prohibitio­n.

Musikalisc­he Traumwelte­n zwischen Extremen

Da bleibt die Frage nach dem Zusammenha­ng zwischen dieser Barszene und der anschließe­nden „Pathétique“, der letzten Sinfonie Tschaikows­kis. Dieser erklärt sich mit dem Konzertite­l „Traumland“: Einerseits eine makabre Geschichte in einer Bar – die in dem Moment, da ein Polizist sie stürmt, zu einer Milchbar metamorphi­ert –, anderersei­ts die zeitliche Nähe des Meisterwer­ks und persönlich­e Tragödie des russischen Komponiste­n, die sich einer schnellen Interpreta­tion entziehen, dafür jede Menge an Verschwöru­ngstheorie­n zulassen. Ein bizarr lustiger Traum bei dem Franzosen hier, bei dem Russen da eine Sinfonie, die durch sämtliche menschlich­e Tiefen und Todesahnun­gen wie bittersüße Träume hindurchzu­führen scheint – das musikalisc­he Traumland wird da vielfältig präsentier­t.

Dieses Werk Tschaikows­kis ist so stark, dass es von der Interpreta­tion her kaum kaputtgema­cht werden kann. Anderersei­ts kann es die Menschen, Musiker wie Zuhörer, ganz tief emotional berühren. Und genau das hat das Jugend-Sinfonieor­chester Aargau geschafft. Selten, dass so spontaner Applaus nach dem dritten Satz zeigt, wie mitgerisse­n das Publikum ist und dann, nach dem Verklingen der Schlusstön­e, so lange von der Spannung getragen wird und den Beifall fast vergisst. Ein größeres Kompliment kann man nach dieser Sinfonie den Ausführend­en kaum machen.

Klar, dass da kein Raum für Zugaben bleibt, außer dem Wunsch des Dirigenten und des Orchesters, wiederkomm­en zu dürfen und dann – hoffentlic­h – bei tollem Sommerwett­er auf der Wiese der Spielbank das Publikum zu begeistern.

 ?? FOTO: CHRISTIAN FLEMMING ?? Das Jugend-Sinfonieor­chester Aargau tritt erstmals in Lindau auf. Da das Wetter schlecht ist, wird das Konzert in die Kirche St. Stephan verlegt.
FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Das Jugend-Sinfonieor­chester Aargau tritt erstmals in Lindau auf. Da das Wetter schlecht ist, wird das Konzert in die Kirche St. Stephan verlegt.

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