Zwischen Schutt und Hoffnung
Ein Jahr nach dem großen Beben – Zu Besuch in den Ruinen von Amatrice
Wenn ich meiner Stadt ein Blumengeschenk machen sollte, dann rote Rosen.“Assunta Massari steht wieder in ihrem Laden. „Leider nicht mehr in der Altstadt von Amatrice, sondern hier im neuen Einkaufszentrum am Stadtrand“. Erst seit kurzem hat die 53-Jährige wieder einen eigenen, kleinen Blumenhandel. „Mein schönes Geschäft liegt in Trümmern, aber ich bin froh, dass ich mit dem Leben davon gekommen bin.“
In der Nacht vom 23. auf den 24. August 2016 bebte in Mittelitalien die Erde. Ein schweres Erdbeben der Stärke 6 auf der Richterskala, das bis nach Rom zu spüren war. In Amatrice, Accumoli, Arquata del Tronto und vielen anderen Ortschaften in Mittelitalien brachen Tausende von Gebäuden zusammen. 299 Menschen starben in der Grenzregion zwischen Latium, Umbrien, den Marken und den Abruzzen. Ganze Orte – wie eben auch Amatrice – sind heute nur noch Trümmerhaufen, gesperrt für die ehemaligen Bewohner und von Soldaten bewacht vor Plünderern.
Die „Zona Rossa“, also die Sperrzone, gehört zum Pflicht-Besuchsprogramm italienischer und ausländischer Politiker und Prominenter. Auch zum Jahrestag der Katastrophe am vergangenen Donnerstag, an dem auch Ministerpräsident Paolo Gentiloni in die Stadt kam, um gemeinsam mit Bewohnern und Angehörigen der Opfer zu gedenken. Hier schritt zuvor auch schon Prinz Charles durch die Trümmer, Papst Franziskus betete vor zerstörten Häusern, Trümmertouristen fahren regelmäßig durch den Ort, so dass schon „No Selfie“-Schilder aufgestellt wurden. Der italienische Regisseur Paolo Sorrentino drehte in einer Kirche zuletzt für einen neuen Film.
Für die Menschen in der schwer getroffenen Region heißt es dagegen, täglich mit der harten Realität zurechtzukommen. Blumenhändlerin Assunta hat wie so viele ihr Wohnhaus verloren. Sie lebt noch heute aus zwei Koffern. Mehr hat sie nicht aus ihrem vom Einsturz bedrohten Haus retten können. „Zunächst wohnte ich in einem Wohnwagen, den mir Freunde zur Verfügung gestellt hatten“, berichtet sie. „Heute besitze ich ein Fertigbauhaus, dass die Regierung mir zur Verfügung stellte“. Nur bescheidene 24 Quadratmeter, so Assunta, „aber besser als gar nichts – und mein eigenes Reich.“
Ihr eigenes Reich hat seit Anfang August auch Clara Longhi. Ein Fertigbauhaus, 40 Quadratmeter groß, am Stadtrand von Accumoli. Auch Claras Haus im Ortskern ist nur noch ein Trümmerhaufen. „Ich habe nur ein einziges Bild retten können, ein Porträt meines Vaters“, sagt sie. Die 85-Jährige führt uns auf die Terrasse vor dem Häuschen. Wenn die ganze Familie zu Besuch kommt, drei Söhne, ihre Frauen und vier Enkelkinder, „dann essen wir hier, denn drinnen ist es zu eng.“Sie zeigt auf eine Mauer. „Die trennt uns von den Ruinen und das ist sehr traurig.“Wenn die Familie wieder abreist, bleibt die alte Dame allein im Fertighaus. „Zum Glück habe ich ja Jacky, meinen kleinen Hund, sonst würde ich mich hier schon recht allein fühlen“.
Vincenzo Rosaro hingegen sieht die Dinge nicht so gelassen wie Assunta und Clara. Rosaro, 49, war Landwirt in Arquata del Tronto. Er und seine Frau, die beiden Kinder und zwei Tanten, alle lebten in dem kleinen Ort unter einem Dach. Sie kamen zwar heil davon, „aber unser Haus ist nur noch Schutt“, sagt Vincenzo, „wir leben seit einem ganzen Jahr in einem Hotel, hier in San Benedetto del Tronto!“. Von den Fenstern des Hotelzimmers aus, das er mit seiner Frau und den beiden Töchtern teilt, geht der Blick auf das sommerliche Meer. Der Strand ist voller Menschen. „Da sind auch meine Töchter, dahinten, mit den beiden Tanten“, sagt Vincenzo, lächelt und nimmt seine Frau Elena in den Arm.
„Ein Jahr in einem Hotel, was das den Staat kostet“, klagt der Landwirt. „Geld, um meinen von dem Beben beschädigten Traktor zu reparieren, das gibt man uns nicht.“Der Staat stellt ihm und seiner Familie nur die Unterkunft zur Verfügung. „Wäre nicht die Hilfe der Caritas Italiana, die uns auch finanziell und nicht nur mit Lebensmitteln hilft, hätten wir einen Kredit aufnehmen müssen.“Vincenzo wartet auf zwei Fertigbauhäuser am Stadtrand von Aquata del Tronto. Eines für seine Familie und eines für die beiden Tanten.
Vincenzos Ortschaft Arquata del Tronto ist, wie auch andere von dem schweren Beben betroffene Kommunen, immer noch abgesperrt und unzugänglich. Schwer bewaffnete Soldaten schieben Wache. Am Ortsrand, wo in den Tagen nach dem 24. August ein Zeltdorf stand, in dem die Familie Rosaro wie auch andere Bürger notdürftig untergebracht worden waren, sollten Fertighäuser errichtet werden. Doch noch wird gearbeitet. Eigentlich sollte schon im Frühjahr alles bezugsfertig sein, aber die Arbeiten ziehen sich in die Länge.
„Das dauert und dauert und dauert!“, klagt Aleandro Petrucci. Er ist, wie er sich selbst nennt, „Bürgermeister der Ruinenstadt Arquata del Tronto“. Das Bauunternehmen, das die Fertigbauwohnungen errichtet, so Petrucci, „arbeitet total langsam, und weder in der Regionalverwaltung noch in Rom scheint jemand zu kontrollieren, ob und wann diese Wohnungen endlich fertig werden“. Petrucci hat die Regionalverwaltung, die verantwortlich ist für die Arbeiten, dazu aufgefordert, ein weiteres Bauunternehmen zu engagieren, damit es endlich zügig vorangeht. Aber dieser Vorschlag stößt nur auf taube Ohren. So sind sie weiter zum Warten und Hoffen verdammt.
In rund einem Monat beginnt die Schule. Theoretisch auch in Arquata del Tronto. Ein provisorisches Schulgebäude steht bereits und ist voll funktionstüchtig. Es wurde von den Lesern der Zeitung „La Stampa“gespendet. „Doch wir haben noch keine Familien mit Kindern hier“, so der Bürgermeister, „die sind ja alle auf Hotels am Meer verteilt.“Und auch wenn die Fertighäuser schon bewohnt wären, meint Petrucci, „können die Menschen hier doch gar nicht leben, denn es gibt noch keine Geschäfte, noch nicht einmal einen Lebensmittelladen“. Es fehle ein zentraler Plan, schimpft der Bürgermeister, um all die Probleme in den Griff zu bekommen. „Jede Kommune wurschtelt vor sich hin, und das Geld aus Rom und aus der Regionalverwaltung fließt nur langsam“, sagt er.
Nach immer lauter werdenden Protesten aus dem Erdbebengebiet entschieden sich Anfang August Staatspräsident Sergio Mattarella und Regierungschef Paolo Gentiloni vor Ort vorbeizuschauen. Beide versprachen das Blaue vom Himmel, kommentiert Aleandro Petrucci diese Besuche, „aber der Schlendrian geht weiter“. Auch wenn die Fertigbauten bereits stehen, fehlt es immer noch am Nötigsten. Wie etwa in Pescara del Tronto: Strom-, Gas- und Wasserkabel sind noch verlegt worden. Aber es gibt keine asphaltierte Straßen oder Bürgersteige, von elektrischem Strom ganz zu schweigen.
Und: In fast allen von dem Erdbeben betroffenen Ortschaften wurden die Trümmer noch nicht weggeräumt. Anfang September vergangenen Jahres versprach Regierungschef Gentiloni, dass „wir das als erstes machen werden, um dann schnell zum Wiederaufbau schreiten zu können“. Große Worte, auf die nur wenige Taten folgten. Einer vorsichtigen Schätzung des Nationalverbandes der Ingenieure zufolge wurden bisher nur zirka 65 000 von geschätzten 550 000 Tonnen Schutt weggeräumt. „Das zeigt doch“, so Bürgermeister Petrucci, „dass hier immer noch absoluter Notstand herrscht!“.
Erstaunlicher Optimismus
Doch es gibt auch Positives aus dem Erdbebengebiet zu berichten. Es ist vor allem die katholische Bischofskonferenz, die, zusammen mit der Caritas Italiana, vielen Menschen, die ihre Lieben und ihr Dach über dem Kopf verloren haben, unter die Arme greift. Mit Lebensmitteln, psychologischer Betreuung und kostenlosen Sommerferien. Viele italienische Bürgerinitiativen sind ebenfalls präsent, helfen bei den alltäglichsten Dingen.
Erstaunlich ist der große Optimismus vieler Menschen, die im Erdbebengebiet versuchen irgendwie zurechtzukommen. „Was bleibt uns auch anderes übrig“, meint Maria Rita Pitoni. Die 57-Jährige ist Rektorin der Schule in Amatrice. Acht ihrer Schüler sind bei dem Erdbeben ums Leben gekommen. „Doch wir sind guten Mutes“, sagt die resolute Schulleiterin, „und am 14. September wird in unserer Ersatzschule aus Holz und Kunststoff der Unterricht beginnen“. Auch wenn es eng ist, soll wieder gelehrt und gelernt werden. „Wir Lehrer werden die jungen Leute schon beschäftigen. Es gibt viel nachzuholen, denn der Unterricht ist ja nach dem 24. August lange Zeit ausgefallen“, sagt sie mit einem Schmunzeln. Der Alltag kehrt ein Stück weit nach Amatrice zurück.
Hier herrscht immer noch absoluter Notstand. Aleandro Petrucci, Bürgermeister von Arquata del Tronto, ärgert sich darüber, dass der Bau neuer Wohnungen kaum vorangeht.