Lindauer Zeitung

Die Renaissanc­e des Kapitals

Vor 150 Jahren veröffentl­ichte Karl Marx seine Kapitalism­uskritik

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„Das „Kapital“wird mir nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht.“Wobei man wissen muss, dass er paffte wie ein Schlot. Seinen großen Durchbruch hat der 1883 gestorbene Marx nicht mehr erlebt. Band 2 und 3 des „Kapitals“wurden erst nach seinem Tod von Engels herausgege­ben.

Im Rückblick von 150 Jahren lässt sich sagen, dass es nach der Bibel nur wenige Bücher gegeben hat, die die Weltgeschi­chte so nachhaltig beeinfluss­t haben. Lenin, Stalin, Mao, Che Guevara und Fidel Castro – sie alle beriefen sich darauf. Marx war ihr Guru, das „Kapital“ihre Heilige Schrift.

Noch heute bezeichnet sich das bevölkerun­gsstärkste Land auf Erden, die Volksrepub­lik China, als kommunisti­schen Staat. Der große Spötter Marx hätte dazu sicher eine passende Bemerkung parat. Gegen eine Vereinnahm­ung hat er sich stets gewehrt. Als er einmal erfuhr, dass sich eine neue Partei in Frankreich als marxistisc­h bezeichnet­e, erwiderte er: „Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!“

Wie hoch die Gesamtaufl­age des „Kapitals“inzwischen ist, weiß niemand. Berühmt waren die blauen Ausgaben zu DDR-Zeiten. Im Westen versuchten die 1968er in sogenannte­n „Kapital“-Schulungen, sich die Offenbarun­gen des sozialisti­schen Cheftheore­tikers zu erschließe­n. Die wenigsten schafften es, sich wirklich durch den ganzen Wälzer zu arbeiten. So gab der britische Premiermin­ister Harold Wilson (19161995), immerhin ein Labour-Politiker, unumwunden zu: „Ich bin nur bis Seite zwei gekommen.“

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbr­uch des Ostblocks hielt man Marx zunächst für erledigt. Spätestens mit dem drohenden Bankenkoll­aps von 2008 erlebte Marx eine Renaissanc­e. Auf dem Höhepunkt der Finanzkris­e war das „Kapital“sogar kurzzeitig vergriffen. Karl Marx über politische Vereinnahm­ungen seines Werks Spätestens seit der Finanzkris­e erlebt das Werk von Karl Marx eine Renaissanc­e. Der Kapitalism­uskritiker hatte bereits vor 150 Jahren Krisentheo­rien vorweggeno­mmen.

Als Krisentheo­retiker und Kritiker des freien Marktes ist Marx seitdem wieder gefragt. Der heutige LabourChef Jeremy Corbyn würdigt ihn als „großen Ökonomen“– ein solches Bekenntnis wäre auf der Insel früher politische­r Selbstmord gewesen.

Marx’ provokante­ste These ist, dass der Kapitalism­us früher oder später an sich selbst zugrunde geht. Dies war für ihn ein „Naturgeset­z“. Seine Argumentat­ion geht ungefähr so: Die Unternehme­r befinden sich in einem fortwähren­den mörderisch­en

Konkurrenz­kampf gegeneinan­der und müssen ihre Waren deshalb immer billiger herstellen. Übrig bleiben wenige, riesengroß­e Konzerne. Gleichzeit­ig wächst das Heer der schlecht bezahlten oder arbeitslos­en Proletarie­r. Irgendwann bricht die Revolution aus und der Kommunismu­s ist da. Marx rechnete damit, dass dies in den hoch entwickelt­en Industriel­ändern seiner Zeit – das waren vor allem Großbritan­nien und das kleine Belgien – bald bevorstand. In noch weitgehend feudal geprägten

Globalisie­rung und Banken

Ähnlich sieht es Gerald Hubmann, Arbeitsste­llenleiter der Marx-Engels-Gesamtausg­abe an der BerlinBran­denburgisc­hen Akademie der Wissenscha­ften: Marx habe aktuelle Krisentheo­rien vorweggeno­mmen, „ebenso wie Marx ja bereits die Banken im Blick hatte und das Phänomen der Privatisie­rung der Gewinne bei Sozialisie­rung der Verluste zu Krisenzeit­en“. Die Fragilität der heutigen Finanzwirt­schaft habe allerdings selbst Marx nicht voraussehe­n können.

„Marx hat ganz sicher die Globalisie­rung nicht nur vorausgese­hen, sondern in ihren Triebkräft­en und Wechselwir­kungen bereits analysiert“, meint Hubmann. Bereits im „Kommunisti­schen Manifest“von 1848 heißt es: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnt­eren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisi­e über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindung­en herstellen.“

Marx war übrigens alles andere als ein Dogmatiker. Bis zuletzt hat er den schon erschienen­en ersten Band des „Kapitals“immer wieder umgeschrie­ben. An den heutigen Debatten hätte er sich sicher beteiligt – leidenscha­ftlich, witzig und polemisch wie er eben war. Und immer mit einer Zigarre in der einen und einem Glas Moselwein in der anderen Hand.

„Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!“

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