Lindauer Zeitung

Trauer um Heiner Geißler

Heiner Geißler, Meister der Zuspitzung, Vertreter christlich­er Werte und Modernisie­rer der CDU ist tot

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Er war ein Bewahrer und Modernisie­rer, Polemiker und Schlichter: Heiner Geißler (Foto: dpa), von 1977 bis 1989 CDU-Generalsek­retär, ist tot. Er starb im Alter von 87 Jahren, wie seine Partei am Dienstag mitteilte. Vertreter von Politik und Kirche würdigten ihn als außergewöh­nliche Persönlich­keit. Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) bezeichnet­e den in Oberndorf am Neckar geborenen Geißler als prägende Figur der deutschen Nachkriegs­zeit. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), die ihn als Ratgeber schätzte, nannte ihn einen „herausrage­nden Christdemo­kraten“und „leidenscha­ftlichen Verfechter der katholisch­en Soziallehr­e“.

Von Sabine Lennartz

Heiner Geißler, der Bergsteige­r, Kletterer und Gleitschir­mflieger, der Mann mit dem Gesicht wie ein alter Berg, mit den vielen Falten und den verhangene­n Augen, war doch so jung wie wenig Jüngere. Er hatte sich seine Neugier auf Gott und die Welt bewahrt. Er war ein konsequent­er Denker, Nachdenker, Querdenker. Heiner Geißler ist tot. „Zum Sterben“ließ er sich vor einigen Tagen aus dem Krankenhau­s nach Hause bringen. Am Dienstag ist er dann im Alter von 87 Jahren in Gleisweile­r in der Pfalz, umgeben von seiner Familie, verschiede­n.

„Früher gab es noch richtige Köpfe in der Politik.“Immer, wenn solch ein Spruch fällt, ist Heiner Geißlers Name nicht weit. Und über CDU-Generalsek­retäre wird nie diskutiert, ohne dass er genannt wird.

Als streitbare­r Politiker hat er es Freund und Feind nie leicht gemacht. Helmut Kohl war beides. Er hat Geißler einst als Generalsek­retär geholt, er hat ihn später kalt fallen lassen.

Strauß misstraute ihm

Als streitlust­iger CDU-Generalsek­retär prägte Geißler von 1977 bis 1989 die Ära Kohl so sehr, dass der CSU-Vorsitzend­e Franz-Josef Strauß 1987 schimpfte, es gebe zwei Parteivors­itzende der CDU. Geißler versuche, die CDU immer mehr auf MitteLinks-Kurs zu führen. Der Mann sehe zwar aus „wie ein ungemachte­s Bett“, aber unterschät­zen dürfe man ihn keinesfall­s, warnte Franz-Josef Strauß die Seinen vor Heiner Geißler. Was für Geißler die überfällig­e Modernisie­rung der CDU war, kam in den Augen der CSU einer Verbeugung vor dem Zeitgeist gleich.

Geißler sorgte für die Akzeptanz des Nato-Doppelbesc­hlusses in seiner Partei, er leitete als Generalsek­retär die neue Frauenpoli­tik der CDU 1985 beim Bundespart­eitag in Essen ein. Fest verankert in der katholisch­en Soziallehr­e setzte er als Familienmi­nister (1982 bis 85) die Erziehungs­zeiten durch.

Die Familie war ihm wichtig. Heiner Geißler, in Oberndorf am Neckar geboren, machte bei den Jesuiten in St. Blasien sein Abitur, trat sogar für vier Jahre dem Jesuitenor­den bei. Doch er wollte nicht ohne eine Frau an seiner Seite leben, und so wurde er, nach eigenen Worten, eine Art verhindert­er Mönch. Ein Mann, der für die christlich­en Werte stritt, wann immer nötig. Von manchen wurde er gar als „Rosenkranz-Marxist“verspottet. Gleichzeit­ig ein Ehemann und Vater von drei Söhnen, einer davon ist heute Sprecher von Peter Altmaier im Kanzleramt.

Die fünfte Kolonne

Der Jurist Heiner Geißler war immer ein Mann der pointierte­n Worte. In der Nachrüstun­gsdebatte verspottet­e er die Gegner in den Reihen der SPD als „fünfte Kolonne Moskaus“. Als er dann auch noch die Haltung der Grünen bekämpfte und sagte, ohne den Pazifismus der 1930er-Jahre wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, nannte Willy Brandt ihn den „schlimmste­n Hetzer seit Goebbels“. Geißler war ein einsamer Meister der Zuspitzung, der dadurch aber notwendige politische Diskussion­en beförderte.

Beide waren gleich alt, Helmut Kohl und Heiner Geißler. Und kurz vor ihren 85. Geburtstag­en im März und April des Jahres 2015 lobte Heiner Geißler zwar ausdrückli­ch Kohls Europapoli­tik, sah aber ansonsten keinen Grund, sich mit dem Altkanzler zu versöhnen.

Bruch mit Kohl

Der Bruch von 1989 ging zu tief. Damals wollte der müde gewordene Helmut Kohl den streitlust­igen Heiner Geißler nicht erneut zum Generalsek­retär vorschlage­n, sondern Volker Rühe benennen.

Helmut Kohl hatte zu jener Zeit den Zenit seiner Karriere überschrit­ten, dass er mit der deutschen Wiedervere­inigung ganz neue Höhen erreichen sollte, war nicht absehbar. Innenpolit­isch herrschte Stillstand, viele in der Partei sehnten sich nach einem neuen Aufbruch, nach frischem Wind. Heiner Geißler, der um neue Wählerschi­chten für die CDU kämpfte, der Frauen und Facharbeit­er umwarb, wollte einen anderen Mann an der Spitze der CDU und des Kanzleramt­s. Er wollte Lothar Späth.

Vor dem historisch­en Bremer Parteitag von 1989 hatte er zusammen mit Lothar Späth und Rita Süßmuth die Chancen ausgelotet, Helmut Kohl zu stürzen. Die Luft im Bremer Ratskeller war zum Schneiden, die Spannung auf dem Höhepunkt: Wird Helmut Kohl herausgefo­rdert oder nicht?

Doch Lothar Späth verließ in letzter Minute der Mut, er fand nicht genug Unterstütz­er. Helmut Kohl siegte und schaute triumphier­end in den Ratskeller hinab. Es blieb alles beim Alten in der CDU. „Erlegt war fast alles in der CDU, was ein wenig Farbe im Gefieder und das triste Schwarz der Kohl-Partei aufgehellt hatte“, schrieb damals der Spiegel. Und der Süden war zur Strafe raus aus der CDU-Spitze. Kein Späth, kein Oettinger.

Heiner Geißler hat später immer gesagt, dass es sich nicht um einen versuchten Putsch handelte, sondern um einen ganz normalen Vorgang der Ablösung. In einer demokratis­chen Partei gebe es schließlic­h keinen Putsch.

CDU und Attac Seite an Seite

Es kommt wohl selten vor, dass die CDU und das globalisie­rungskriti­sche Netzwerk Attac gleicherma­ßen ihre Trauer um ein prominente­s Mitglied öffentlich kundtun. Bei Geißlers Tod ist dies der Fall. Denn 1989 war lange noch nicht das Ende von Geißlers politische­r Karriere. Er änderte sich im Laufe seines Lebens vom unermüdlic­hen Gegner des menschenve­rachtenden Kommunismu­s zum Aktivisten gegen den unsozialen und unökologis­chen Kapitalism­us.

Die totale Ökonomisie­rung der Gesellscha­ft führe zu einer Umkehr der Werte, warnte der alte Heiner Geißler. „Wir haben auf der Erde Geld wie Dreck. Es haben nur die falschen Leute“, sagte er da einmal.

Bis 1998 gehörte Geißler dem deutschen Bundestag als Abgeordnet­er des Wahlkreise­s Reutlingen­Tübingen an. Seit 1997 war er ein begehrter Schlichter, zum Beispiel für die IG Bau.

Noch einmal ins volle Rampenlich­t trat Geißler 2010/2011 als Schlichter für Stuttgart 21. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier hebt hervor, dass er diese Aufgabe selbstlos übernommen habe und auch bei dieser letzten größeren Aufgabe gezeigt habe, dass Wege zur Versöhnung und zum Ausgleich zu gehen wusste.

In Talkshows war Geißler bis zuletzt immer ein beliebter Gast. Denn es war eine Freude, dem immer wieder und immer noch streitbare­n Politiker zuzuhören. Einen „Raufbold vor dem Herrn“hat ihn der verstorben­e Bundespräs­ident Rau einmal genannt. Und das war durchaus als Kompliment. gemeint.

„Heiner Geißler war einer der markantest­en Köpfe unserer Partei: intellektu­ell herausrage­nd, rhetorisch brillant, streitbar und selbstbewu­sst.“Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und CDU-Generalsek­retär Peter Tauber in einer gemeinsame­n Erklärung „An der Auseinande­rsetzung mit seiner pointierte­n Sicht auf die Linke und die Sozialdemo­kratie ist die Diskussion­skultur Deutschlan­ds gewachsen.“Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) „Mit seiner Vermittler­rolle in Konflikten wie bei S 21 hat er mit die Grundlage für unsere Politik des Gehörtwerd­ens gelegt.“Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) „Ein Mahner, ein Streitschl­ichter, ein Humanist, ein Konservati­ver – einer, den wir alle gerade in diesen Zeiten vermissen werden.“Linksparte­i-Chefin Katja Kipping „Soziale und ökologisch­e Verantwort­ung, Menschlich­keit. Ich bin tief erschütter­t. Sein Vermächtni­s bleibt.“Kanzleramt­sminister Peter Altmaier (CDU) „Er erinnerte uns immer wieder daran, dem ,C’ als unserem Wertekompa­ss die gebührende Beachtung zu schenken.“Unions-Fraktionsc­hef Volker Kauder

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FOTO: IMAGO Denker, Nachdenker, Querdenker: Heiner Geißler 1986 beim Bundespart­eitag der CDU in Mainz.
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FOTO: DPA Heiner Geißler war extrem sportlich.
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FOTO: DPA Erst vereint, dann entzweit: Heiner Geißler mit Helmut Kohl.
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FOTO: DPA Geißler als Schlichter für das Bahnprojek­t Stuttgart 21.
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FOTO: DPA Mit Carmen Thomas nach einer Farbbeutel­attacke 1986.

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