Lindauer Zeitung

Tägliches Chaos vor der Schule

„Elterntaxi­s“nehmen zu – Viele Kinder sind ihren Schulweg noch nie zu Fuß gegangen

- Von Christian Brahmann, dpa

Wenden auf dem Gehweg, Parken im absoluten Halteverbo­t, Fahren gegen die Fahrtricht­ung. Vor vielen Schulen spielen sich jeden Morgen chaotische Szenen ab. Ein Grund dafür sind die sogenannte­n „Elterntaxi­s“, mit denen die Kleinen von ihren – oft besorgten und oft gestresste­n – Eltern zur Schule gebracht werden. Da, wo die Ferien schon seit ein paar Wochen rum sind, ist diese Nervenprob­e schon wieder in den Familienal­ltag eingezogen.

Vor allem, wenn die Eltern „unbedingt bis vor den Eingang“fahren wollen, sei das ein großes Problem, warnt Cornelia Zieseniß von der Landesverk­ehrswacht Niedersach­sen, wo die Schule seit Anfang August wieder läuft. Zusätzlich zu riskanten Anhalte- und Wendemanöv­ern gebe es immer wieder Eltern, die ihre Kinder unbeaufsic­htigt zur Fahrbahnse­ite aussteigen lassen.

„Eines der Hauptprobl­eme ist, dass Eltern den Schulweg oft subjektiv nicht für sicher halten und insbesonde­re bei jüngeren Kindern auch Angst vor Übergriffe­n haben“, berichtet Zieseniß. Neu ist dieses Phänomen nicht. Maßnahmen von den Schulen, der Polizei und etwa dem ADAC gibt es jedes Jahr wieder. Nur scheint die Aufklärung­sarbeit nach den Ferien schnell in Vergessenh­eit zu geraten – und mit dem neuen Schuljahr beginnt das Problem von vorn.

Polizisten kennen das weite Spektrum der Elternreak­tion schon auswendig. Es gebe oft Einsicht und Verständni­s, aber teils eben auch den Hinweis: „Das geht Sie gar nichts an“, berichtet Polizist Stefan Weinmeiste­r. Neben den regelmäßig­en Kontrollen und der Aufklärung würden an manchen Tagen auch Verwarngel­der verhängt.

Mancherort­s wird sogar über Bannmeilen diskutiert: An der Albert-Schweitzer-Grundschul­e in Hannover zum Beispiel wurde eine spezielle Zone zum Ein- und Aussteigen eingericht­et, wie der zuständige Verkehrssi­cherheitsb­erater der Polizei, Thomas Kliewer, berichtet. Nur in dieser Zone sollen „Elterntaxi­s“stoppen dürfen, überall sonst nicht. Solche Zonen können laut Landesverk­ehrswacht auch einige Hundert Meter vom Schulgelän­de entfernt liegen, der restliche Fußweg müsse aber verkehrssi­cher sein.

Ähnlich wie die Landesverk­ehrswacht betrachtet der ADAC die Einrichtun­g von Bringzonen als sinnvoll. „Wir unterstütz­en die Schulen dabei“, sagt Sprecherin Alexandra Kruse. Vor allem den Erstklässl­ern fehle in dem Chaos die Übersicht, meint Kruse. Sie habe das gefährlich­e Schauspiel schon mehrfach beobachtet.

Als eine „Katastroph­e für die Eigenveran­twortung der Kinder“bezeichnet dagegen der Erziehungs­wissenscha­ftler Albert Wunsch das, was besorgte „Elterntaxi“-Fahrer veranstalt­en. Für den Autor des Buches „Die Verwöhnung­sfalle“ist die Verkehrssi­cherheit dabei aber das kleinere von zwei Problemen. Viel schwerwieg­ender sei, dass die Eltern ihren Kindern den Schulweg einfach nicht zutrauten. „Damit vermasseln sie Erfahrunge­n, die die Kinder unbedingt machen sollten“. Der Pädagoge meint den gemeinsame­n Weg in der Gruppe, sich gegenseiti­g Geschichte­n zu erzählen, vielleicht auch mal einen kleinen Umweg zu machen, auf diese Weise das Areal zwischen Wohnung und Schule kennenzule­rnen oder einen Streich zu spielen. Das alles werde den Kindern vorenthalt­en – aus Bequemlich­keit.

Argument der Angst zählt nicht

Um die Konsequenz­en zu verdeutlic­hen, berichtet Wunsch vom Beispiel einer Schule, die im Juli den Kindern hitzefrei habe geben wollen. Die Umsetzung sei daran gescheiter­t, dass zu viele Schüler noch nie allein nach Hause gegangen seien und den Weg einfach nicht gekannt hätten. Das Argument der Angst werde von Elternseit­e häufig bemüht. „Wie sollen Kinder dann später allein zur weiterführ­enden Schule gehen?“, fragt Wunsch. Unsichere Eltern müssten den Schulweg einfach mit ihrem Nachwuchs trainieren. Und: 60 Prozent der Kinder, die gefahren würden, hätten einen Schulweg von weniger als 800 Metern.

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FOTO: DPA Viele Eltern trauen ihren Kindern den Schulweg einfach nicht mehr zu und fahren sie deshalb mit dem Auto zum Unterricht und wieder zurück.

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