Immer mehr Arbeitnehmer werden psychisch krank
Krankenkassenbericht: Zunahme der Fehltage um 80 Prozent
BERLIN - Volkskrankheiten Burnout und Depression? Arbeitsausfälle durch psychische Krankheiten haben in den vergangenen zehn Jahren dramatisch zugenommen. Inzwischen sind sie der häufigste Grund für Ausfallzeiten, wie aus dem Fehlzeitenreport 2017 der AOK Gesundheit hervorgeht, der am Donnerstag in Berlin präsentiert wurde. Wo liegen die Ursachen? Was können Politik und Betriebe tun, um gegenzusteuern? Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Report.
Wie stark haben Arbeitsausfälle durch psychische Erkrankungen zugenommen?
Seit 2006 hat die Zahl der Fehltage auf Grund psychischer Leiden bei den AOK-Versicherten um 80 Prozent zugenommen. Und sie führten zu besonders langen Job-Pausen. Mit 25,7 Tagen je Fall fehlten psychisch Kranke mehr als doppelt so lange wie Arbeitnehmer mit anderen Erkrankungen, bei denen der Ausfall im Durchschnitt 11,7 Tage betrug. Andere Studien bestätigen den Trend. Nach Angaben der DAK-Gesundheit sind psychische Erkrankungen bei Frauen inzwischen der häufigste Grund für Fehltage. Bei Männern sind es Probleme im Muskel- und Knochensystem.
Leiden heute mehr Menschen unter psychischen Problemen als früher?
Eindeutig Ja. Die Zahl von Depressionen und Burnouts, aber auch schweren schizoiden Krankheiten nimmt stark zu. Das liegt nur zum Teil daran, dass Ärzte besser diagnostizieren und die Menschen wegen psychischer Probleme schneller den Arzt aufsuchen. Immer mehr Menschen sind suizidgefährdet. „Psychische Leiden nehmen in ihrer ganzen Breite zu, das wird auch den Arbeitsmarkt in Zukunft noch stärker belasten“, erklärte Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPDBundestagsfraktion, gestern im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Macht der Stress im Job immer häufiger krank?
Die Gewerkschaften beklagen seit Jahren eine wachsende Belastung der Arbeitnehmer durch Stress, Überstunden und unregelmäßigere Arbeitszeiten. Doch es gibt auch andere Gründe: Der Zerfall von Familienstrukturen spielt aus Sicht von Gesundheitsforschern eine mindestens ebenso große Rolle. Menschen, die alleine leben, haben ein höheres Risiko, psychisch krank zu werden.
Wie stark beeinflussen Lebenskrisen den Job?
Wie das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) herausfand, war etwa die Hälfte der 2000 befragten Beschäftigten in den vergangenen fünf Jahren von einem kritischen Lebensereignis betroffen. „Die Folgen sind für Beschäftigte und Arbeitgeber gravierend“, erklärte WIdO-Vizegeschäftsführer Helmut Schröder gestern bei der Vorstellung des Berichts in Berlin. Ganz vorne auf der Liste stehen schwere Erkrankungen in der Familie und Konflikte im privaten Umfeld (je 14 Prozent), gefolgt von der Trennung vom Partner oder Ehescheidung (13 Prozent). Streit oder Mobbing am Arbeitsplatz waren für neun von hundert Befragten der Grund für eine Lebenskrise. Arbeitnehmer über 50 Jahre sind doppelt so häufig von Krisen betroffen (65 Prozent) wie jüngere Arbeitnehmer bis 30 Jahre (37 Prozent). Krankheit, Altern oder der Tod eines Partners sind die wichtigsten Gründe. Mehr als die Hälfte der Befragten fühlten sich durch die Krise in ihrer Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz eingeschränkt, mehr als ein Drittel meldete sich häufiger krank. Die Hälfte gab an, in Krisenzeiten krank zur Arbeit gegangen zu sein.
Wie gehen die Unternehmen damit um?
In größeren Unternehmen gibt es ein breites Angebot, neben Kollegen sind Vorgesetzte für die Hälfte der Betroffenen wichtige Gesprächspartner. Möglichkeiten zu kürzeren Arbeitszeiten oder unbezahltem Urlaub werden intensiv genutzt. Jeder fünfte Betroffene gab indes an, keine betriebliche Unterstützung erhalten zu haben. In Kleinstbetrieben, in denen 20 Prozent aller Arbeitnehmer beschäftigt sind, gibt es hingegen weniger Chancen, auf Krisen einzugehen.
Wo kann die Hilfe bei Krisen und psychischen Krankheiten verbessert werden?
Die AOK fordert, dass sich Unternehmen stärker mit den älter werdenden Belegschaften und den damit häufigeren Krisen der Mitarbeiter auseinandersetzen. In Kleinstbetrieben müssten Führungskräfte stärker für die Rolle als Unterstützer und Vermittler befähigt werden, erklärte WIdO-Vize Schröder. Zudem regte er den Aufbau von Netzwerken mit anderen Unternehmen an, um Unterstützung geben zu können. SPDGesundheitsexperte Lauterbach hält eine bessere Früherkennung für notwendig. Er verweist auf skandinavische Länder, wo gefährdete Menschen in Unternehmen gezielt von Experten aufgesucht und betreut würden. Vor allem seien mehr Psychotherapeuten in ländlichen oder industriellen Regionen notwendig, wo ein akuter Mangel an Anlaufstellen herrsche. Zu lösen sei dies nur durch eine bessere Vergütung.
Wie hat sich der Krankenstand insgesamt entwickelt?
Trotz der Zunahme psychischer Leiden ist der Krankenstand der AOKVersicherten insgesamt stabil geblieben und lag 2016 wie im Vorjahr bei 5,3 Prozent. Im Schnitt fehlte jeder Beschäftigte 19,4 Tage pro Jahr aufgrund eines ärztlichen Attestes.