Lindauer Zeitung

„Hirngespin­ste“– intensiver geht’s nicht

Gerd Anthoff und Martin Kälberer machen Lesung am Weltalzhei­mertag zum Erlebnis der besonderen Art

- Von Maria Luise Stübner

LINDAU - Einen anderen Ansatz für das Thema Alzheimer hat sich die Sozialstat­ion Lindau dieses Mal für den Weltalzhei­mertag vorgenomme­n. Mit der Lesung „Hirngespin­ste“ist ihr das bestens gelungen: Organisier­t von Carlotta Koss von der Kontaktste­lle Demenzhilf­e Allgäu, wird der Abend für die Zuhörer im vollbesetz­ten Gewölbesaa­l des Heilig-Geist-Spitals in Lindau zu einem höchst intensiven Erlebnis.

Beifall brandet auf, als Schauspiel­er Gerd Anthoff und Musiker Martin Kälberer die Bühne betreten. Es ist Zeit für „Hirngespin­ste“. Und besser als in dieser vom niederländ­ischen Autor J. Bernlef in der Ich-Perspektiv­e geschriebe­nen fiktiven Geschichte lässt sich Alzheimer eigentlich gar nicht erklären. Weil hier statt der üblichen Sicht von außen ein Betroffene­r seine Wahrnehmun­g schildert: „Vielleicht kommt es vom Schnee, dass ich mich morgens schon so müde fühle“, sagt Marteen Klein. Er steht am Fenster, schaut hinaus und fragt sich, wo die Kinder heute bloß bleiben.

Aber die Kinder sind schon lange groß und aus dem Haus. Und es ist Sonntag und bereits Nachmittag. Marteen hat vergessen, Holz aus dem Schuppen zu holen, worum ihn seine Frau Vera gebeten hatte. Jetzt muss er auf die Toilette. Dort sitzt er öfter, wenn er über etwas nachdenkt. Das Problem: „Es ist schwer, über was nachzudenk­en, wenn man sich nicht erinnert.“

So fängt es an bei Marteen Klein, der seine Frau genau beobachtet, ihre grünen Augen mit den Sprenkeln drin, ihre Reaktionen auf das, was er tut und getan hat. Seine Heißhunger­attacke, der ein halbes Huhn, eine Dose Leberpaste­te, mehrere Scheiben Ananas und eine Packung Kekse zum Opfer fallen. Gut, dass es einen Hund im Haus gibt. Marteen redet sich wie bei den Papierfetz­en in der Toilette heraus: „Vielleicht war’s Robert.“Gelegenhei­t für die Zuhörer, zu lachen in einer Erzählung, die tief berührt.

Marteen legt sich Strategien zurecht zum Lesen eines Buches, zum Kaschieren von Fehlern, verfolgt den Zeiger auf der Uhr, bis die zehn Minuten um sind, von denen seine Frau sprach. Aber was sollte er eigentlich tun, wenn die zehn Minuten um sind? Seine Verwirrung wird fast greifbar im Raum.

Was Gerd Anthoff ausdrucksv­oll bei der Lesung vermittelt, macht Martin Kälberer am Piano spürbar: Marteens Gedanken und Gefühle, die verzweifel­te Suche nach einem Wort, nach Verlorenge­gangenem, das Nichtbegre­ifen, die Angst, den Zorn, die Verlorenhe­it. „Zimmer müssen absolute Tatsachen sein“für den 71-Jährigen, der seine Schlüssel sucht, weil er doch zur Sitzung muss. Aber in dem schiefergr­auen Haus, dessen Tür er mit Schraubenz­ieher und Hammer öffnet, ist niemand.

Alltäglich­es wird fremd und komplizier­t

Ihm wird übel, er will zu Vera. Vera, die inzwischen beim Arzt war. Wegen Marteen, der jetzt Tabletten nehmen soll. Vera, die er trösten will: „Ich bin bei Dir. Wir haben doch uns.“Aber er versteht gut, dass sie traurige Augen hat und jetzt weinen muss. „Waschen, waschen, waschen“, selbst alltäglich­e Verrichtun­gen werden fremd und komplizier­t. Und morgens beim Aufwachen stehen die Wände verkehrt rum wie damals in der Kindheit.

Marteen brüllt. Er will weiterkämp­fen gegen das, was ihm Angst macht, hört die junge Frauenstim­me, die zu Vera sagt, dass es Geduld und die richtigen Medikament­e brauche. Es braucht aber wohl noch mehr: „Sie binden mich fest, zweifellos aus Fürsorge“, stellt der Kranke fest. Und irgendwann geht die Türklingel, und vor der Veranda steht ein langes, weißes Auto. Männer in weißen Jacken lösen Marteens Hände, die sich am Stuhl festklamme­rn. „Vera“, sagt er leise, „Vera“. Bevor die Fahrt beginnt und er denkt, dass es eigentlich egal ist „ob wir weiße Flocken oder schwarze Sprenkel werden.“

Schweigen schwingt nach. Dem dann der hochverdie­nte große Schlussapp­laus für die beiden Akteure auf der Bühne folgt. Hochkaräti­ge Künstler, deren Verpflicht­ung nur mit Hilfe von Bodenseeba­nk und Sparkasse möglich war, wie Gerhard Fehrer, Geschäftsf­ührer der Sozialstat­ion, in seinen Dankeswort­en an die Sponsoren betont.

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FOTO: MARIA LUISE STÜBNER Werden nach der Lesung mit viel Beifall bedacht: Schauspiel­er Gerd Anthoff (rechts) und Musiker Martin Kälberer.

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