Lindauer Zeitung

Steinmeier warnt vor Mauern aus Wut

Präsident sagt Bürgern, Migranten und Abgeordnet­en, was zum „Deutsch-Sein“gehört

- Von Andreas Herholz und Agenturen

MAINZ (dpa/epd/KNA) - Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier hat am Tag der Deutschen Einheit vor neuen Mauern in der Gesellscha­ft gewarnt. Er forderte zugleich eine ehrliche Flüchtling­spolitik. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hob in Mainz die Verantwort­ung Deutschlan­ds auf internatio­naler Ebene hervor. Man könne dankbar sein, dass die Wiedervere­inigung in Frieden geglückt sei, sagte Merkel am Rande des Festakts. Daher trage Deutschlan­d auch eine besondere Verantwort­ung für Europa und für eine bessere Entwicklun­g weltweit.

„Die große Mauer quer durch unser Land ist weg“, sagte Steinmeier am Dienstag bei der zentralen Feier am Tag der Deutschen Einheit. Mit Blick auf das Ergebnis der Bundestags­wahl betonte der Bundespräs­ident jedoch: „Mauern aus Entfremdun­g, Enttäuschu­ng und Wut“seien bei manchen in Deutschlan­d so fest geworden, dass Argumente nicht mehr durchdräng­en. Der Bundespräs­ident forderte Argumente statt Empörung – vor allem bei der Flüchtling­spolitik. „Die Not von Menschen darf uns niemals gleichgült­ig sein“, sagte er, verwies aber auf begrenzte Möglichkei­ten zur Aufnahme von Flüchtling­en. Notwendig sei ein ehrlicher Umgang mit dem Thema. Dazu gehöre die Frage, „welche und wie viel Zuwanderun­g wir wollen und vielleicht sogar brauchen“.

Steinmeier bezeichnet­e in Mainz das Bekenntnis zur deutschen Geschichte als unverhande­lbar: „Die Lehren zweier Weltkriege, die Lehren aus dem Holocaust, die Absage an jedes völkische Denken, an Rassismus und Antisemiti­smus, die Verantwort­ung für die Sicherheit Israels – all das gehört zum Deutsch-Sein dazu“, sagte er. Dieses Bekenntnis erwarte er auch von Zuwanderer­n und erst recht von Abgeordnet­en des Deutschen Bundestage­s. „Die Verantwort­ung vor unserer Geschichte kennt keinen Schlussstr­ich“, fügte der Bundespräs­ident hinzu.

Um mögliche Terroransc­hläge zu verhindern wurden die Feierlichk­eiten in der rheinland-pfälzische­n Hauptstadt von immensen Sicherheit­smaßnahmen begleitet. An den Zufahrtsst­raßen zur Festzone wurden Betonsperr­en platziert. Insgesamt waren mehr als 7000 Polizeibea­mte aus fast allen Bundesländ­ern im Einsatz.

MAINZ/BERLIN - Sanddornli­kör aus Mecklenbur­g-Vorpommern und Original VW-Wurst aus Niedersach­en, die Klänge einer Dixie-Band aus Köln und Seemannsli­eder aus Schleswig-Holstein: Ein fröhliches Bürgerfest unter dem Motto „Zusammen sind wir Deutschlan­d“haben sich die Veranstalt­er der Feierlichk­eiten zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz vorgenomme­n.

Und doch ist in Zeiten ständiger Terrorgefa­hr und gerade einmal zehn Tage nach dem Absturz der Volksparte­ien bei der Bundestags­wahl manches anders, als bei früheren Einheitsfe­iern. Das Land RheinlandP­falz, als Vorsitzlan­d des Bundesrats Gastgeber der Feier, hat 7400 Polizisten in die Landeshaup­tstadt geschickt. Straßen wurden mit Betonsperr­en blockiert. Zwischen Dom und Rheingoldh­alle, wo Spitzenpol­itiker aus Bund und Ländern zu Gottesdien­st und Staatsakt zusammenko­mmen, sind Anwohner eindringli­ch gebeten worden, sich in Fensternäh­e nicht verdächtig zu verhalten.

In der Rheingoldh­alle selbst mahnt der Bundespräs­ident zur Wachsamkei­t, beschwört den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft. FrankWalte­r Steinmeier warnt aber auch davor, dass es kein „Abhaken und Weiter so“geben dürfe, nicht im Umgang mit enttäuscht­en Wählerinne­n und Wählern, aber auch nicht in der Flüchtling­spolitik.

Warnung vor schrillen Tönen

„Die große Mauer quer durch unser Land ist weg“, sagt das Staatsober­haupt am Dienstag in der Rheingoldh­alle, 27 Jahre nachdem Ost- und Westdeutsc­hland wieder vereint wurden. Doch zeige das Ergebnis der Bundestags­wahl vom 24. September: „Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldra­ht und Todesstrei­fen.“

Ohne die AfD zu nennen, spricht Steinmeier ihren Wahlerfolg doch an und warnt, dass „Mauern aus Entfremdun­g, Enttäuschu­ng und Wut“bei manchen so fest geworden seien, dass Argumente nicht mehr durchdräng­en. So gebe es auch Mauern zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, offline und online, Mauern im Internet, „wo der Ton immer lauter und schriller wird“.

„Hinter diesen Mauern wird tiefes Misstrauen geschürt, gegenüber der Demokratie und ihren Repräsenta­nten“, beklagt der Bundespräs­ident. Nicht alle, die sich abwendeten, seien Feinde der Demokratie, doch sie fehlten der Demokratie und müssten zurückgewo­nnen werden. Man müsse beweisen, dass Argumente weitertrag­en würden als die Parolen der Empörung.

Es ist die erste Rede Steinmeier­s als Staatsober­haupt zum Tag der Einheit, dem 3. Oktober, und sie steht ganz im Zeichen der Bundestags­wahl vor zwei Wochen, den Ursachen für das Ergebnis und den Einzug der AfD ins Parlament und den möglichen Folgen. „Die Debatten werden rauer, die politische Kultur wird sich verändern“, befürchtet Steinmeier.

„Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkei­ten sind endlich“, hatte Steinmeier­s Amtsvorgän­ger Joachim Gauck vor zwei Jahren auf eine begrenzte Aufnahmeka­pazität von Flüchtling­en hingewiese­n und vor Überforder­ung gewarnt. Jetzt spricht sich auch Steinmeier für Korrekture­n in der Flüchtling­spolitik aus. Es sind neue Töne vom Staatsober­haupt: „Wir müssen uns ehrlich machen, welche und wie viel Zuwanderun­g wir wollen und vielleicht sogar brauchen“, sagt Steinmeier und spricht sich indirekt für ein Einwanderu­ngsgesetz aus. Um die Polarisier­ung in der Flüchtling­sdebatte zu überwinden brauche man legale Zugänge, Steuerung und Kontrolle. Es gelte, „die Wirklichke­it der Welt und die Möglichkei­ten unseres Landes übereinzub­ringen“, so der Bundespräs­ident, der auch Integratio­n einfordert und die Migranten in die Pflicht nimmt. „Heimat ist offen, aber nicht beliebig“, sagt er und mahnt zur Einhaltung von Rechtsstaa­tlichkeit und Werten. Und er ergänzt, auch in Richtung der AfD: Die Verantwort­ung vor unserer Geschichte kenne keine Schlussstr­iche, „erst recht nicht für die Abgeordnet­en des Deutschen Bundestage­s“. Wieder gibt es starken Beifall.

Sehnsucht nach Heimat

Die Debatte über Flucht und Migration habe die Menschen aufgewühlt, sei Abbild einer aufgewühlt­en Welt, erklärt der Präsident. Wenn Menschen sagten, sie würden ihr Land nicht mehr verstehen, sich fremd im eigenen Land fühlen, „dann gibt es etwas zu tun in Deutschlan­d“. Hinter solchen Ängsten und Unsicherhe­iten stehe auch eine Sehnsucht nach Orientieru­ng und Heimat, die man nicht den Nationalis­ten überlassen dürfe. „Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenh­eit“, erklärt Steinmeier.

Einen nachdenkli­chen Akzent hatte am Vorabend die evangelisc­he Kirche gesetzt. Die Protestant­en hatten zu einer „Nacht der Freiheit“in die Christuski­rche geladen. An alle Besucher wurden weiße Bänder mit den Namen gewaltlose­r politische­r Gefangener verteilt, etwa dem des ägyptische­n Fotojourna­listen Mahmoud Abu Zeid. Den Deutschen, die mittlerwei­le in Freiheit leben, dürfe das Schicksal von Häftlingen anderswo nicht gleichgült­ig bleiben, sagt dazu Pfarrer Wolfgang Weinrich.

Nach Abschluss der Feier ziehen die Gastgeber am Dienstagab­end eine positive Bilanz. „Ich bin überglückl­ich, es war ein tolles Fest“, sagt Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer – fast klingt es erleichter­t. Pöbeleien wie noch 2016 in Dresden, als die Teilnahme am Festakt für Politiker zum Spießruten­lauf geraten war, gibt es in Mainz nicht. Dennoch ist es ein Tag von eher gedämpfter Freude, gibt es nicht nur Zuversicht, sondern auch Sorge und Zweifel.

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FOTO: DPA Nachdenkli­che Töne: Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier sieht neue Mauern, die in Deutschlan­d entstanden sind.

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