Schockierend menschlich
W äre ich in der Lage, Menschenfleisch zu essen? Wozu bin ich imstande, ginge es ums bloße Überleben in der größten Not? Diese Fragen begleiten den Leser von Franzobels neuem Roman „Das Floß der Medusa“. Dem österreichischen Autor, der mit bürgerlichem Namen Franz Stefan Griebl heißt, ist ein herausragendes Werk gelungen, das sich schonungslos mit dem Wesen des Menschen auseinandersetzt, mit dem Wert unserer Moral und unserer Kultur. Er stellt unsere Gefühle auf die Probe und zwingt zum Nachdenken.
Im Kern des fast 600 Seiten zählenden Romans geht es um ein Schiffsunglück vor 200 Jahren vor der Küste Mauretaniens, das sich tatsächlich zugetragen hat. Die Fregatte „Méduse“, wie das echte Schiff heißt, läuft vom französischen Festland aus in die Kolonie Senegal. An Bord sind 400 Menschen, die alle einen unterschiedlichen Antrieb haben, nach Afrika zu gehen. Sie wollen einfach nur arbeiten, Karriere machen, vor zu Hause fliehen, ein Abenteuer wagen oder reich werden. Doch die Reise endet für die Medusa auf einer Sandbank. Weil nicht alle in die Rettungsboote passen, baut man für 150 Menschen ein Floß, um sie zu retten, überlässt sie aber dann mitten auf dem Ozean sich selbst. Der heißen Sonne Afrikas ausgesetzt, mit ein paar Schlucken Wein an Bord, beginnen für die Menschen 13 Tage unerträgliche Qualen. Am Ende überleben 15. Der französische Maler Théodore Géricault hat diese Katastrophe in seinem berühmten Gemälde „Das Floß der Medusa“1819 verewigt. Eine Reproduktion ziert das Buchcover.
Was auf dem Schiff und später auf dem Floß passiert, lässt dem Leser das Blut in den Adern gefrieren. Für Seefahrerromantik (sollte es sie je gegeben haben) lässt der Autor selbst auf der Schifffahrt keinen Platz. Unverblümt und realitätsgetreu beschreibt Franzobel, wie Menschen leiden und zu Tieren werden, nur noch von einem Gedanken angetrieben: nicht zu sterben. Der Autor schreckt nicht davor zurück, die Geschmacksvariationen von Urin und Menschenfleisch zu beschreiben. „Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr“, schreibt Franzobel und könnte es schöner und treffender nicht ausdrücken. Der Österreicher schreibt modern, spannend, flüssig, szenisch, bleibt aber nicht hängen, die Handlungsstränge immer im Blick. Er moderiert selbst, hat sein Werk mit gut recherchierten Fakten gespickt, bleibt am Kern des Themas, das so aktuell ist wie 1816. Dass er sich manchmal in der Seemannssprache verliert, kann man ihm getrost verzeihen. Ein schockierend menschliches Buch.