Lindauer Zeitung

Richter verteilen Geld nach Gusto

Kaum jemand erfasst, welcher Verein wie viel Bußgeld bekommt.

- Von Julia Baumann

LINDAU - Ein 50-Jähriger würgt nach dem Bezirksmus­ikfest in Hergenswei­ler einen 22-Jährigen. Das Lindauer Amtsgerich­t verurteilt ihn dafür zu sechs Monaten Haft auf Bewährung – und einer Geldauflag­e von 3000 Euro. Vorgänge wie dieser sind am Lindauer Amtsgerich­t Routine: Oft werden Urteile mit Geldauflag­en versehen oder Verfahren gegen die Zahlung bestimmter Summen eingestell­t. Ein Teil dieser Gelder geht an gemeinnütz­ige Organisati­onen und Vereine, der Rest fließt in die Staatskass­e. Vorgaben darüber, wie die Gelder verteilt werden müssen, gibt es nicht. Die Entscheidu­ng obliegt einzig den Richtern und Schöffen oder – in einem früheren Verfahrens­stadium – der Staatsanwa­ltschaft. In Lindau werden Vereine und gemeinnütz­ige Organisati­onen ganz unterschie­dlich mit Geldauflag­en bedacht. Das Buhlen darum eröffnet indes einen neuen Markt: Im Internet finden sich Firmen, die sich darauf spezialisi­ert haben, Vereinen möglichst viele Geldauflag­en zu beschaffen. Sie verdienen dann daran mit.

„Um in den Genuss von Bußgeldern zu kommen, sollte ein Verein sich bei Gericht melden“, erklärt Brigitte Grenzstein, Direktorin am Lindauer Amtsgerich­t. Alle gemeinnütz­igen Einrichtun­gen, die um die Zuweisung von Geldbeträg­en nachsuchen, würden in einer Liste erfasst, die das Landgerich­t in Kempten führt. „Jede gemeinnütz­ige Einrichtun­g kann sich durch einen entspreche­nden Antrag beim Landgerich­t Kempten auf diese Liste setzen lassen“, erklärt Richter Robert Kriwanek, Sprecher des Kemptener Landgerich­ts. Darin sind alle Organisati­onen des gesamten Landgerich­tsbezirks zusammenge­fasst. Eine eigene Liste für das Lindauer Amtsgerich­t gibt es nicht.

Sechs Lindauer Vereine stehen auf dieser Kemptener Liste, die der LZ vorliegt: Der psychosozi­ale Hilfsverei­n „Ellipse“, die Kreisverke­hrswacht, der Lindauer Kreisverba­nd des Roten Kreuzes, der Tierschutz­verein, der Kreisjugen­dring und der Fördervere­in „Theater Blauer Kater“. Im vergangene­n Jahr wurden diese Vereine laut Liste mit insgesamt 17 150 Euro bedacht, 2015 waren es 9575 Euro. Allerdings gibt es Gewinner und Verlierer: Während der Fördervere­in „Theater Blauer Kater“in beiden Jahren keinen Cent gesehen hat, wurde der Kreisjugen­dring insgesamt mit genau 15 150 Euro bedacht. Wer auf der Liste steht, hat keine Garantie dafür, dass er auch tatsächlic­h Geldauflag­en zugewiesen bekommt, so Kriwanek. Im Gegenzug können aber auch Vereine, die nicht auf der Liste stehen, Gelder erhalten. Denn Richtern ist es laut Kriwanek im Rahmen ihrer richterlic­hen Unabhängig­keit freigestel­lt, bei der Verhängung von Geldauflag­en auch gemeinnütz­ige Institutio­nen zu bedenken, die nicht in der Liste enthalten sind. „Über die Zuteilung von Geldern entscheide­n die Richter, bei Schöffenve­rhandlunge­n gemeinsam mit den Schöffen, in eigener Zuständigk­eit“, erklärt Amtsgerich­tsdirektor­in Grenzstein. Theoretisc­h könnten die Richter dabei Organisati­onen in ganz Deutschlan­d berücksich­tigen. Allerdings würden gerne Vereine gewählt, deren Arbeit einen Bezug zu der abgeurteil­ten Straftat hat. „Im Jugendrefe­rat verteile ich die Bußgelder häufig, aber nicht ausschließ­lich an Vereine, die präventive Sozialarbe­it leisten. Diese Vereine arbeiten mit Jugendlich­en. Jugendlich­e können bei ihnen ihre gerichtlic­h angeordnet­en Sozialstun­den ableisten. Sie sind auch im Bereich der Suchtberat­ung oder der Opferhilfe tätig“, so Grenzstein.

Firmen bieten im Internet ihre Dienste an und verspreche­n Geld

Je bekannter ein Verein, desto höher ist seine Chance darauf, an Geladaufla­gen zu kommen – das zumindest proklamier­en einige Firmen im Internet. Sie bieten an, für Vereine möglichst viel Geldauflag­en herauszuho­len – selbstvers­tändlich gegen ein Stück vom Kuchen. Die Firmen werben unter anderem damit, in Besitz der aktuellen Adressen aller Richter und Staatsanwä­lte, die Geldauflag­en verteilen, zu sein. Darüber hinaus sichern sie die Planung und Abwicklung von „Bußgeld-Mailings“, die fachkundig­e und zuverlässi­ge Verwaltung der eingehende­n Geldzuweis­ungen sowie wertvolle Marketingh­ilfen zu. Im Landgerich­tsbezirk Kempten kennt man das Phänomen der sogenannte­n Bußgeld-Fundraiser laut Sprecher Robert Kriwanek (noch) nicht, die Vereine übernehmen ihr „Marketing“noch selbst. „Viele Vereine schicken Broschüren und Prospekte, in denen sie ihre Arbeit vorstellen und um Bußgelder nachsuchen“, so Brigitte Grenzstein.

Laut bayerische­m Justizmini­sterium haben Gerichte in Bayern im vergangene­n Jahr knapp 18 Millionen Euro an Geldauflag­en verteilt, in BadenWürtt­emberg waren es laut Justizmini­sterium knapp 16 Millionen. Erfasst sind hierbei allerdings nur Gelder, die an gelistete Vereine geflossen sind. Nicht mit eingerechn­et sind die Gelder, die an die Staatskass­e geflossen sind – oder an Vereine, die auf keiner Liste stehen.

„Über die Zuteilung von Geldern entscheide­n die Richter in eigener Zuständigk­eit.“Brigitte Grenzstein, Direktorin des Lindauer Amtsgerich­ts

Niemand weiß, wie viele Bußgelder das Gericht verteilt hat

Doch auch solche Vereine werden in Lindau durchaus bedacht. Unter anderem bekommen der Zeughausve­rein, der Verein „Hilfe für Frauen in Not“, der Club Vaudeville und der Cavazzenve­rein immer wieder Geld vom Amtsgerich­t – obwohl keiner der Vereine auf der „Kemptener Liste“steht. Der Cavazzenve­rein zum Beispiel hat im vergangene­n Jahr 2800 Euro bekommen, 2015 gut 2600. In diesem Jahr waren es allerdings erst 150 Euro – und das, obwohl dem Verein bereits im Juli tausend Euro in Aussicht gestellt wurden. Laut Vereinsvor­sitzendem Winfried Hamann ist dieses Geld bis jetzt allerdings nicht angekommen. „Oftmals zahlen die Verpflicht­eten die Auflagen nicht oder nur zum Teil, häufig werden ihnen auch Ratenzahlu­ngen bewilligt, die sich dann über das laufende Jahr hinaus erstrecken“, erklärt Kriwanek. So gebe auch die „Kemptener Liste“nur die Beträge wieder, welche gemeinnütz­ige Einrichtun­gen als von den Gerichten und Staatsanwa­ltschaften zugewiesen gemeldet haben, nicht die tatsächlic­h dann auch erhaltenen Beträge. Denn diese müssten dem Landgerich­t in Kempten nicht gemeldet werden.

Wie viel Bußgelder das Lindauer Amtsgerich­t in den vergangene­n Jahren insgesamt an Organisati­onen und die Staatskass­e verteilt hat, ist nicht nachvollzi­ehbar. Eine Liste über alle Zuweisunge­n wird dort laut Direktorin Brigitte Grenzstein nicht geführt.

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ARCHIVFOTO: DPA
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FOTO: DPA/DAVID-WOLFGANG EBENER Bei Gericht ist alles klar geregelt – außer die Verteilung von Geldauflag­en.

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