Klassentreffen der Gruppe 47
Schriftsteller kommen noch einmal in der Pulvermühle zusammen
WAISCHENFELD (dpa) - Fünf Jahrzehnte nach ihrem letzten Treffen sind Protagonisten der legendären Gruppe 47 am Ort des Geschehens wieder zusammengekommen - eine Art Klassentreffen der Nachkriegsliteratur in Oberfranken.
Sie sitzen in der milden Oktobersonne, blicken auf Felsen, bunt belaubte Bäume, eine Burg. Sie trinken Kaffee und essen Küchla, eine fränkische Spezialität. Fünf Jahrzehnte nach dem letzten Treffen der legendären Autorenvereinigung Gruppe 47 hat die Stadt Waischenfeld die noch lebenden Mitglieder eingeladen zu einem Literaturfestival. Denn hier im Gasthof Pulvermühle wurde vor 50 Jahren Literaturgeschichte geschrieben, als das Ende der Gruppe 47 eingeläutet wurde.
Kritische Rückschau
Martin Walser hat abgesagt. Doch es sind einige bekannte Autoren gekommen, darunter Hans Magnus Enzensberger (87) und Friedrich Christian Delius (74). Sie lesen aus ihren Werken, aber genießen es auch sichtlich, ins Gespräch zu kommen.
Ein „Veteranentreffen“sei es ja irgendwie, sagt Büchner-Preisträger Delius. Und auch gegen den Begriff „Klassentreffen“habe er nichts einzuwenden. Er finde gut, dass wieder mehr über die Gruppe 47 gesprochen werde. Enzensberger sitzt auf einem Podium und erinnert sich: an Intrigen, an einen „Jahrmarkt der Eitelkeiten“, daran, wie „amüsant und lustig“es zuweilen zuging — aber auch an seine gemischten Gefühle, als er die Einladung in Händen hielt, wieder nach Waischenfeld zu kommen. Seine Augen leuchten, wenn er mit Hans Christoph Buch und Jürgen Becker Erinnerungen austauscht.
Doch es wird auch ernst. Enzensberger sagt, er bedauere bei der Gruppe 47 die Abwesenheit von ExilAutoren: „Das nehme ich der Gruppe ein bisschen übel.“Jürgen Becker, der 1967 in der Pulvermühle den letzten Preis der Gruppe 47 gewinnen konnte, versucht, die Motive von Hans Werner Richter, dem Initiator, zu ergründen.
Der 1993 gestorbene Richter habe sich damals mit Leuten seiner Generation nach Diktatur, Krieg und Zusammenbruch gefragt: „Wie machen wir weiter?“Er habe die Zeitgenossen im Boot haben wollen, nicht die Stimmen der Vergangenheit. Jedoch: „Es erscheint im Nachhinein als ungerecht, dass er bei diesem Neuanfang die Exil-Literatur draußen haben wollte.“
Es gibt zwar einen Zeitplan der Organisatoren, doch von marketinggerechter Einhaltung eines Programms hält hier in Waischenfeld niemand etwas. „Die Autoren sind keiner Pflicht verpflichtet“, sagt Organisatorin Karla Fohrbeck. Sie nimmt es mit Humor, die Gäste auch.
Eine Ausstellungseröffnung verschiebt sich, weil viele Literaten sich lieber in der Innenstadt der Kleinstadt tummeln. Es gibt dort Eis, die katholische Pfarrgemeinde verkauft Kaffee und Kuchen. Von Waischenfeld selbst habe man ja vor 50 Jahren eher wenig mitbekommen, erinnert sich Delius: „Wir kamen von der Autobahn aus Berlin, es war dunkel.“
Wer der Hektik der Frankfurter Buchmesse entfliehen will, ist an diesem Wochenende im ländlichen Waischenfeld genau richtig. Diese Art der Abgeschiedenheit suchte auch einst Richter, als er zu den Treffen der Gruppe einlud, die offiziell ja eigentlich keine Gruppierung war. Wer eine Postkarte von Richter bekam, durfte kommen – die Orte waren bewusst abseits der Metropolen gewählt.
Die Gruppe 47 mit ihren Protagonisten wie Günter Grass, Heinrich Böll, Martin Walser, Ingeborg Bachmann und Enzensberger galt als wichtigste Intellektuellen-Bühne der Nachkriegszeit.
Doch in der Pulvermühle 1967 zeigte sich, dass die Generationenkonflikte unüberbrückbar geworden waren. Draußen protestierten linksgerichtete Studenten aus Erlangen, drinnen ließ sich kein Konsens mehr herstellen. Ein von Richter geplantes Treffen im Jahr 1968 im heutigen Tschechien scheiterte an der Niederschlagung des Prager Frühlings.