Lindauer Zeitung

EU will Hilfen für die Türkei kürzen

Beitrittsg­espräche werden aber nicht abgebroche­n – Gipfel einigt sich in Sachen Migration

- Von Daniela Weingärtne­r und unseren Agenturen

BRÜSSEL (epd/dpa/AFP) - Die Europäisch­e Union stellt im Konflikt mit der Türkei milliarden­schwere Finanzhilf­en auf den Prüfstand. Die EU-Kommission soll im Auftrag der Staats- und Regierungs­chefs ermitteln, ob die sogenannte­n Vorbeitrit­tshilfen gekürzt oder umgewidmet werden, erklärten EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk und EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker am Freitag nach dem EU-Gipfel in Brüssel. „Wir wollen die Tür nach Ankara offen halten, aber die gegenwärti­ge Realität in der Türkei macht dies schwierig“, sagte Tusk.

Das Thema war auf Wunsch von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) auf die Agenda genommen worden. Sie und ihre Kollegen hätten lange über die Vorbeitrit­tshilfen, die Länder mit EU-Kandidaten­status an die Union heranführe­n sollen, gesprochen. Merkels Worten zufolge soll bei einer Kürzung „in verantwort­barer Weise“vorgegange­n werden, da das Geld nicht nur der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan zugute komme. Vielmehr flössen Hilfen auch an „diejenigen, die sich eine andere Entwicklun­g in der Türkei vorstellen“, so Merkel. Juncker sagte am Freitag, bereits jetzt werde in der Türkei ein Drittel des Geldes „noblen Zielen zugeführt“. Er nannte die Unterstütz­ung der Zivilgesel­lschaft und die Stärkung der Rechtsstaa­tlichkeit.

Die Vorbeitrit­tshilfen fließen im Rahmen der Beitrittsv­erhandlung­en der Türkei mit der EU. Für 2014 bis 2020 waren bislang gut 4,45 Milliarden Euro vorgesehen, allein für 2017 rund 636 Millionen Euro. Das Geld soll Reformen vorantreib­en. Die Beitrittsg­espräche mit der Türkei, die derzeit de facto ruhen, sollen jedoch nicht abgebroche­n werden. Für einen solchen Einschnitt gebe es unter den EU-Chefs „im Grunde keine Mehrheit“, sagte Merkel.

Während die Kanzlerin die Türkei einerseits kritisiert­e, würdigte sie anderersei­ts deren Flüchtling­spolitik. Die Staats- und Regierungs­chefs waren sich einig, am mit Ankara geschlosse­nen Flüchtling­spakt festzuhalt­en. Im Gegensatz zur heiß diskutiert­en Brexit-Debatte, in der es in Brüssel erneut keine Fortschrit­te gab, einigte man sich in puncto Migration auf eine gemeinsame Strategie: Die EU und ihre Mitgliedst­aaten wollen die „volle Kontrolle“über die Außengrenz­en. Fluchtrout­en sollen stärker überwacht werden. Durch mehr Abschiebun­gen, auch mithilfe der europäisch­en Grenzschut­zagentur Frontex, wolle man Migrations­willigen den Anreiz zur Flucht nehmen. Staaten der Sahelzone, etwa Mali oder Burkina Faso, sollen in ihrem Kampf gegen Schleuser unterstütz­t werden. Für Ankunftslä­nder wie Griechenla­nd und Italien soll es ebenfalls mehr Hilfen aus Brüssel geben. Die Zusammenar­beit mit Herkunftsl­ändern wie Afghanista­n und Transitsta­aten wie Libyen soll ausgebaut werden.

BRÜSSEL - Im Streit über den Brexit gibt die Europäisch­e Union den Briten acht Wochen Zeit für die Erfüllung ihrer Forderunge­n. Beim EUGipfel in Brüssel reichten den bleibenden 27 Ländern am Freitag die Fortschrit­te in den Verhandlun­gen noch nicht. Nun könnte erst das nächste Gipfeltref­fen im Dezember die Verhandlun­gsphase über einen neuen Handels- und Zukunftspa­kt zwischen der EU und Großbritan­nien freigeben. Die 27 forderten klare Zusagen Londons in Finanzfrag­en, betonten aber auch ihren guten Willen. Bundeskanz­lerin Angela Merkel äußerte sich zuversicht­lich, dass es letztlich eine Einigung gibt und somit auch kein harter Brexit droht.

„Ich habe da eigentlich überhaupt gar keinen Zweifel, wenn wir geistig alle klar sind“, sagte die CDU-Chefin. Sie sehe „null Indizien dafür, dass das nicht gelingen kann“. Großbritan­nien habe schon deutliche Signale gesetzt, nur „noch nicht genug, um Etappe zwei (der Verhandlun­gen) zu beginnen“. Aus Merkels Sicht könnte das im Dezember klappen. EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk äußerte sich ähnlich. Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron erkannte einen guten Willen der Briten an, warnte aber: „Wir haben den Weg heute noch nicht zur Hälfte geschafft Auf finanziell­em Gebiet hat Großbritan­nien noch eine große Anstrengun­g vor sich.“Es gehe nicht nur um das Budget der Jahre 2019 und 2020, sondern auch um weiterreic­hende Zahlungsve­rpflichtun­gen.

Großbritan­nien gehört seit mehr als 40 Jahren zur EU. Für einen Ausstieg verlangt Brüssel Zusagen, vor allem eine Schlusszah­lung für Londons Verbindlic­hkeiten von bis zu 100 Milliarden Euro. Das sei „das herausrage­nde Thema“, sagte Merkel. Erst wenn hier „ausreichen­der Fortschrit­t“erreicht ist, sollen in einer zweiten Verhandlun­gsphase die künftigen Beziehunge­n geklärt werden. Großbritan­nien möchte damit jedoch so schnell wie möglich starten - zumal an dem Abkommen Hunderttau­sende von Jobs und die Zuversicht der Wirtschaft hängen könnten.

Die britische Premiermin­isterin Theresa May warb bei dem Gipfeltref­fen mit den übrigen Staats- und Regierungs­chefs noch einmal für ihre Position und forderte Entgegenko­mmen. Konkrete Zusagen zu den Finanzen vermied May. „Wir werden unsere Verpflicht­ungen einhalten, die wir während unserer EU-Mitgliedsc­haft eingegange­n sind“, sagte sie, fügte aber an: „Wir werden diese Zeile für Zeile durchgehen.“Der österreich­ische Bundeskanz­ler Christian Kern berichtete aber immerhin, es gebe „eine langsame Annäherung, vor allem was die Summen betrifft“.

Zu Beginn des zweiten Gipfeltage­s hatten die Staats- und Regierungs­chefs zusammen mit May mögliche Reformen des Bündnisses erörtert, wie sie vor allem Macron vorantreib­en will. Ratspräsid­ent Donald Tusk hatte einen Fahrplan bis Mitte 2019 vorgelegt und vorgeschla­gen, mehr schwierige Sachfragen auf Chefebene zu lösen, darunter auch Reformen der Eurozone. Aus der Runde erhielt er dafür Rückendeck­ung, wie Merkel bestätigte.

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FOTO: AFP Emmanuel Macron

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