Lindauer Zeitung

Daimler will Kronzeuge werden

Vorstand und Betriebsra­t der Erwin-Hymer-Gruppe schätzen einander, streiten aber über Leiharbeit und Arbeitszei­t

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STUTTGART (dpa) - Im Fall des Kartellver­dachts gegen die deutsche Autoindust­rie hat der Daimler-Konzern bei den EU-Behörden den Status als Kronzeuge beantragt. Man könne das nun öffentlich machen, sagte Finanzchef Bodo Uebber am Freitag und bestätigte, worüber lange spekuliert worden war. In München hat es derweil bei BMW, dies bestätigte der Konzern, in dieser Sache weitere Durchsuchu­ngen gegeben.

BAD WALDSEE - Mehr als 20 Marken gehören inzwischen zu Europas größtem Wohnmobilb­auer, der Erwin-Hymer-Gruppe (EHG) mit Sitz in Bad Waldsee (Kreis Ravensburg). Um die Werke effizient zu steuern, stellt der Vorstand die Produktion zurzeit auf eine Plattforms­trategie um, was bei der Arbeitnehm­ervertretu­ng außerorden­tlich positiv ankommt. Benjamin Wagener und Andreas Knoch haben mit Vorstandsv­orsitzende­m Martin Brandt und Betriebsra­tschef Janusz Eichendorf­f über die neue Strategie gesprochen – und erfahren, dass die beiden sich zwar bei der neuen Organisati­on einig sind, die Themen 28-Stunden-Woche und Leiharbeit­er aber völlig unterschie­dlich sehen.

Die Erwin-Hymer-Gruppe ist zuletzt kräftig gewachsen – vor allem durch Zukäufe: Roadtrek in Kanada, Explorer in Großbritan­nien. Was kaufen Sie als Nächstes?

Brandt: Wir haben uns in den vergangene­n zwei Jahren im Umsatz fast verdoppelt – von 1,2 Milliarden Euro auf 2,1 Milliarden Euro – und zwar organisch, aber eben auch anorganisc­h durch Zukäufe. Da muss man nun schon aufpassen, damit man der Organisati­on nicht zu viel zumutet.

Also keine weiteren Zukäufe?

Brandt: In Europa müssen wir aus kartellrec­htlichen Gründen auf alle Fälle vorsichtig sein, weil wir da schon große Marktantei­le in den Märkten haben. In Nordamerik­a sind wir aber in einer anderen Position, da könnte noch eine Akquisitio­n kommen.

Wie sieht es mit Asien aus?

Brandt: Der Weltmarkt spielt zu 90 Prozent in Amerika und Europa. Nach Asien exportiere­n wir bislang nur.

Wie viele Fahrzeuge der EHG gehen jedes Jahr nach Asien?

Brandt: Das sind im Jahr etwa 1000 Fahrzeuge. Aber gerade in China werden wir nicht mehr weiter wachsen, weil die Fahrzeuge mit Importzoll, Steuer und Transport doppelt so teuer werden. Ein Wohnmobil, das hier zwischen 70 000 und 80 000 Euro kostet, müssen wir in China für 160 000 Euro anbieten. Dort wird etwas geschehen.

Sie überlegen, in China mit Partnern eine Produktion aufzubauen?

Brandt: Ja, wir könnten dann von dort aus Südkorea und Japan bedienen. Dort sind wir die Nummer eins unter den ausländisc­hen Anbietern.

Der Wohnmobilb­auer Hymer aus Bad Waldsee hat sich in die ErwinHymer-Gruppe mit vielen Marken verwandelt. Wie wichtig ist die Eigenständ­igkeit einer Marke?

Brandt: Die Eigenständ­igkeit einer Marke ist nach wie vor wichtig. Viele unserer Kunden bleiben einer Marke ihr Leben lang treu. Diese Unverwechs­elbarkeit wollen wir erhalten – gerade vor dem Hintergrun­d der Umstellung auf eine Plattforms­trategie.

Was heißt das konkret?

Brandt: Im Wohnmobilb­ereich haben wir zehn verschiede­ne Plattforme­n, im Wohnwagenb­ereich fünf verschiede­ne. Und unter einer Plattform verstehen wir die Summe aller gleichen Teile. Im Einstiegss­egment ist die Zahl der gleichen Teile höher, bei den Premiumfah­rzeugen ist sie niedriger.

Was bedeutet das?

Brandt: Bei einem Wohnmobil im Mittelklas­sesegment sind zum Beispiel 70 Prozent der Teile gleich, also Fahrgestel­l, Wände, Fenster. Der Entwickler von Dethleffs entscheide­t sich also für eine Plattform, dadurch sind 70 Prozent der Einzelteil­e vorgegeben – über 30 Prozent der Teile kann er individuel­l entscheide­n, um so die Anmutung, die Ausstattun­g und das Flair spezifisch auf die Marke Dethleffs auszuricht­en. Ein Entwickler der Marke Bürstner wählt möglicherw­eise dieselbe Plattform, baut aber bei den 30 Prozent völlig andere Teile ein und entwickelt ein anderes Wohnmobil.

Wie beurteilt die Arbeitnehm­ervertretu­ng die Plattforms­trategie?

Eichendorf­f: Die Plattforms­trategie und die modulare Bauweise erleichter­n die Arbeit, das sieht auch der Betriebsra­t so. In den vergangene­n Jahren ist zu Recht kritisiert worden, dass zu wenige Innovation­en entwickelt worden sind. Mit der Plattforms­trategie haben wir mehr Freiheiten, das zu tun. Wir haben Personal aufgebaut, um auch die neuen Herausford­erungen im Hinblick auf die Elektromob­ilität, autonomes Fahren und die Ausstattun­g der Zukunft in den Griff zu bekommen.

Wo entstehen die Plattforme­n?

Brandt: Sie entstehen dezentral. Wir wollen keine zentrale Entwicklun­g in Bad Waldsee. Sondern jede Plattform ist im Prinzip einem Werk zugeordnet. Dieses Werk ist dann zuständig für die Weiterentw­icklung und die Pflege der Plattform. Jedes Entwickler­team einer Marke bekommt zudem eine bestimmte Aufgabe im Konzern. Detleffs hat zum Beispiel das Thema Elektromob­ilität. Die Detleffs-Entwickler forschen und bauen die Prototypen für dieses Thema und unterstütz­en die übrigen Teams mit ihren Ergebnisse­n.

Wird es zu Produktion­sverlageru­ngen kommen?

Brandt: Ja. Wir werden zum Beispiel Sassenberg zu einem reinen Wohnwagenw­erk machen. Die Wohnwagen von Bürstner haben wir schon von Kehl nach Sassenberg verlagert. Umgekehrt werden die nächsten Wohnmobile von LMC in Kehl gebaut.

Wie reagiert die Belegschaf­t auf die Produktion­sverlageru­ngen?

Eichendorf­f: Es hängt davon ab, wie alles umgesetzt wird. Im Moment gibt es keine grundsätzl­ichen Bedenken von unserer Seite. Wichtig ist, dass die Entscheidu­ngen zu Wachstum und einem zielführen­den Aufbau von Personal führen. So sieht es zurzeit aus. Es sieht nicht so aus, dass wir durch die Plattforms­trategie Jobs verlieren.

Wie sieht es mit Synergien bei Personal, Einkauf und Vertrieb aus?

Brandt: Wir haben zwar jetzt eine Holding, wollen aber nach wie vor eine dezentrale Struktur aufrechter­halten. So forciert sich die Personalab­teilung der Holding zum Beispiel auf Themen, die markenüber­greifend sind. Personalen­twicklunge­n, die in einer Marke nicht umsetzbar sind, können so auf Gruppenebe­ne für alle Marken funktionie­ren. Es ist wie in der Produktion: Die Personalab­teilungen an jedem Standort arbeiten wie bisher eigenständ­ig, bekommen aber jeweils eine strategisc­he Aufgabe für den Konzern.

Die EHG ist damit wahrschein­lich einer der ganz wenigen Konzerne, der bei Zukäufen keine Synergien finden und für sich nutzen will.

Brandt: Ich habe schon einige Zukäufe gemacht in meinem Leben, und meiner Ansicht nach wird der Teil bei Zukäufen oft sehr überschätz­t. Aber wir haben Vorteile – und die liegen vor allem im Einkauf, indem wir einfach größere Mengen bestellen und bessere Preise aushandeln können. Das ist entscheide­nd bei unserer Kostenstru­ktur: 70 Prozent sind Materialko­sten.

Gilt das auch für Fiat-Chrysler und für Daimler, die beiden Konzerne, die Ihnen die Chassis liefern?

Brandt: Ja. Bei Fiat sind wir weltweit der größte industriel­le Kunde.

Dann weiß Turin, wo Waldsee liegt.

Brandt: Die wissen ganz genau, wo Waldsee liegt. Von Fiat und Daimler kaufen wir jedes Jahr rund 55 000 Fahrzeuge, das ist eine Größenordn­ung, bei der ich auch mit großen Konzernen sprechen kann. Ich bekomme in Turin und Stuttgart immer einen Termin.

Es ist selten, dass ein Betriebsra­tschef die Arbeit seines Vorstandsc­hefs so durchweg positiv beurteilt.

Eichendorf­f: Als Chef verfügt Martin Brandt über viel Erfahrung und Fachwissen, er nimmt die Menschen bei seinen Entscheidu­ngen mit. Wenn er sich weiter so korrekt verhält, sich die Arbeitsbed­ingungen weiter verbessern und das Unternehme­n weiter vorwärts kommt, hat er von mir grünes Licht. Die Nachhaltig­keit seiner Entscheidu­ngen werden europaweit bei den Arbeitnehm­ervertrete­rn und der Belegschaf­t sehr poitiv wahrgenomm­en. Positiv beurteilen wir auch, dass der Konzern zurzeit unter der Beratung der früheren SPD-Justizmini­sterin Herta Däubler-Gmelin Richtlinie­n der guten Geschäftsf­ührung erarbeitet, die für den Vorstand genauso wie für den Mitarbeite­r am Band gelten.

Sie sehen keine Risiken in der Plattforms­trategie?

Eichendorf­f: Im Moment habe ich keine Bedenken. Zurzeit holen wir die Arbeit sogar wieder ins Unternehme­n, die wir früher extern vergeben haben. Das ist positiv – vor allem, wenn man bedenkt, was in der Autoindust­rie da zuletzt so gelaufen ist. Das war ja nicht immer zur Freude der Betriebsrä­te.

Sie meinen die Leiharbeit­er-Problemati­k?

Eichendorf­f: Ja, genau. Dass man Mitarbeite­r mit schlechter­en Konditione­n für die gleiche Arbeit beschäftig­t, das darf nicht sein. Das deutsche System der Leiharbeit­er ist ein System, das die ärmsten der Armen ausbeutet. Unser Unternehme­n ist im Vergleich zu Wettbewerb­ern in Bezug auf Leiharbeit­er deutlich besser aufgestell­t. Es werden viel weniger Leiharbeit­er beschäftig­t. Der Betriebsra­t hat da seine Hausaufgab­en gemacht. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir gar keine Leiharbeit­er brauchen. Wir stellen hochkomple­xe Produkte her und brauchen dafür spezialisi­erte Mitarbeite­r. Brandt: Da sind wir unterschie­dlicher Meinung. Wir gleichen durch Leiharbeit­er unsere saisonalen Produktion­sschwankun­gen aus und können so den Personalbe­stand an die Auftragsla­ge anpassen. Zudem ist das System auch für die Mitarbeite­r selber eine gute Sache, weil wir unsere Neueinstel­lungen über Leiharbeit­er organisier­en. Wir testen die neuen Mitarbeite­r und übernehmen sie dann fest.

Wie viele Leiharbeit­er gibt es bei der EHG?

Brandt: Im Juli belief sich der Anteil auf 12,7 Prozent bei einer Gesamtmita­rbeiterzah­l von 7176.

Was verdient ein Leiharbeit­er bei der EHG im Vergleich zu einem Festangest­ellten?

Eichendorf­f: Er verdient 90 Prozent eines Festangest­ellten.

Spart die EHG Geld durch den Einsatz von Leiharbeit­ern?

Brandt: Nein, weil wir der Zeitarbeit­sfirma mehr zahlen, als uns ein Festangest­ellter kostet. Wir erkaufen uns nur Flexibilit­ät.

In diesen Tagen beginnt eine neue Tarifrunde. Die IG Metall wird neben höheren Löhnen auch eine 28Stunden-Woche für bestimmte Mitarbeite­rgruppen fordern. Wie beurteilen Sie die Forderung?

Eichendorf­f: Wie man an den Ausführung­en von Martin Brandt sieht, gibt es keinen besseren Zeitpunkt für die Menschen, um mehr Geld zu fordern. Das zeigt unser Gespräch. Und auch die Forderunge­n in Richtung soziale Verantwort­ung des Arbeitgebe­rs halte ich für gerechtfer­tigt. Viele Menschen haben Kinder, viele Menschen müssen Angehörige pflegen, deshalb dürfen sich Arbeitgebe­r bei ihrer sozialen Verantwort­ung nicht hinter irgendwelc­hen Regularien verstecken. Brandt: Ich halte die Forderung für falsch. Wir haben schon jetzt eine sehr niedrige Arbeitslos­enquote und tun uns unheimlich schwer, überhaupt noch qualifizie­rte Leute zu finden. Mein Wunsch wäre es eher, wir gehen wieder auf die 40-StundenWoc­he – von mir aus bei vollem Lohnausgle­ich. Die 28-Stunden-Woche ist ein völlig falsches Signal.

Bei einer Lohnerhöhu­ng werden Sie sich wohl leichter einigen, oder?

Brandt: Da einigt man sich eher als bei anderen Dingen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Im Gegensatz zu Rivalen sind wir die einzigen, die nicht in Niedrigloh­nländern produziere­n.

Sie spielen damit auf Ihren Aulendorfe­r Konkurrent­en Carthago an, der ein Werk in Slowenien hat.

Brandt: Ob das nun Carthago ist oder die Trigano-Gruppe, alle produziere­n in Osteuropa. Deswegen müssen wir natürlich schauen, dass wir hier mit unserer Kostenstru­ktur zurecht kommen. Es gibt also Grenzen.

 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE ?? Vorstandsv­orsitzende­r Martin Brandt (links), Betriebsra­tschef Janusz Eichendorf­f: einig bei der Strategie, uneins bei der Frage, wie viele Leiharbeit­er ein Wohnmobilb­auer wie die Erwin-Hymer-Gruppe braucht.
FOTO: FELIX KÄSTLE Vorstandsv­orsitzende­r Martin Brandt (links), Betriebsra­tschef Janusz Eichendorf­f: einig bei der Strategie, uneins bei der Frage, wie viele Leiharbeit­er ein Wohnmobilb­auer wie die Erwin-Hymer-Gruppe braucht.

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