Lindauer Zeitung

WALD Unser

Die Serie über den Sehnsuchts­ort der Deutschen - ab heute

- Von Michael Lehner

Was wäre Deutschlan­d ohne seine Wälder – vom dunklen Schwarzwal­dtann im Südwesten bis zum urigen Buchenwald über Rügens Kreidefels­en? Sehnsuchts­orte und Streitobje­kte zugleich, denn der Wald ist auch Wirtschaft­sfaktor, mindestens so wichtig wie die Autoindust­rie. Und, nahezu ausschließ­lich, Natur aus Menschenha­nd. Ein sagenumwob­enes, oft besungenes und in der Literatur allgegenwä­rtiges Paradies mit hohem Konfliktpo­tenzial.

Im Schwarzwal­d galt früher die Faustregel, dass eine reife Tanne die Hochzeit einer Bauerntoch­ter finanziert. Der Wald als Geldanlage überstand Kriege und Währungskr­isen. Er prägte den Begriff der Nachhaltig­keit, schon lange bevor dieser Mode wurde. Seit Generation­en schon darf in Deutschlan­d nur eingeschla­gen werden, was auch nachwächst.

Der Wald ist zudem Paradebeis­piel für die These, dass der Mensch dauerhaft nur das schützt, was ihm auch Nutzen bringt. Wald produziert den ältesten Energieträ­ger der Menschheit­sgeschicht­e und kompensier­t zugleich enorme Mengen der Schadstoff­e, die unser modernes Wirtschaft­en erzeugt. Global wie regional ist er aus unserem Ökosystem nicht wegzudenke­n.

Insgesamt gilt, dass es der Natur egal sein kann, ob die Wohltaten fürs Klima von Urwäldern erbracht werden. Oder aber, wie in Europa, überwiegen­d von Wirtschaft­swäldern. Weltweit betrachtet ist es bedauerlic­herweise so, dass der Raubbau vor allem dort voranschre­itet, wo es noch Urwald gibt – vom Amazonas bis nach Sibirien. Während in fernen Ländern große Urwaldfläc­hen dem Anbau von Konsumpfla­nzen weichen müssen (nicht nur fürs Palmöl, sondern auch für die Modefrucht Avocado), wird bei uns erbittert darüber gestritten, wie viel Urwald Deutschlan­d braucht. Dieser muss selbst in den Nationalpa­rks zum größten Teil erst geschaffen werden – von Menschenha­nd. Binnen 25 Jahren, haben sich Politik und Forst vorgenomme­n, soll dieser Wandel beispielsw­eise im Harz gelingen.

Der Waldbauer Heinrich Prinz zu Fürstenber­g hält solche Sehnsucht nach sich selbst überlassen­en Wäldern für reines Wunschdenk­en: „Diese Sichtweise ist zu banal, da es diesen natürliche­n Wald fast gar nicht gibt in Deutschlan­d. Dieser Wunsch-Naturwald könnte wirklich erst ein Waldökosys­tem werden, wenn der Mensch ihn mindestens 100 bis 200 Jahre in Ruhe lässt.“

Im Bayerische­n Wald, dem ältesten deutschen Nationalpa­rk, führte die reine Lehre vom Wildwuchs beinahe zum Volksaufst­and, weil die dort zunächst nicht bekämpften Borkenkäfe­r über die Reservatsg­renzen in die Nutzwälder ausschwärm­ten. Nur noch Kernzonen bleiben heute sich selbst überlassen, seit die CSU-Staatsregi­erung die Notbremse zog und dem Käfer auch im Nationalpa­rk zu Leibe rücken lässt.

Im noch jungen Schwarzwal­d-Nationalpa­rk lassen die Urwaldplan­er die Kirche eher im Dorf – und bekämpfen die Käfer zumindest in den Randzonen. Anhaltende­n Ärger gibt es trotzdem auch dort. Im dritten Jahr nach der Reservatse­röffnung ist der Widerstand noch höchst lebendig. Die kritische Bürgerakti­on „Unser Nordschwar­zwald“zählt akribisch jede Birke, die trotz Nationalpa­rk-Mantra einer sich selbst regelnden Natur unter die Kettensäge gerät. Und beklagt, dass die Touristen trotz gegenteili­ger Versprechu­ngen eben nicht in Scharen kommen. Ob Schwarzwal­d oder Böhmerwald: Als Fremdenver­kehrsmagne­t ist so ein Nationalpa­rk von bescheiden­er Wirkung. Die Kurzurlaub­er schätzen offenbar eher menschgema­chte Attraktion­en wie Baumwipfel­pfade.

Dabei lehrt gerade das Beispiel Wald, wie komplex Ökosysteme sind. Und wie sehr diese den Menschen an die Grenzen vermeintli­cher Allmacht bringen. Etwa durch das Schalenwil­d, das der Siedlungsd­ruck in die Waldregion­en verdrängt hat. Dort sorgen Reh und Hirsch nun dafür, dass der ökologisch erwünschte Mischwald so recht nicht hochkommen will, weil Bambi & Co. bevorzugt Laubbäume schälen und verbeißen. Geduld könnte helfen: Der Klimawande­l, glauben Wissenscha­ftler, wird die ungeliebte­n Fichten dezimieren und den Buchen eine neue Blütezeit bescheren. Bis dahin wird wohl weiter gestritten: Im bayerische­n und württember­gischen Oberland existieren längst früher für unmöglich gehaltene Allianzen von Jägern und Tierschütz­ern, um die dem Waldumbau geschuldet­en Massenabsc­hüsse des Schalenwil­ds zu stoppen. „Wald vor Wild“lautet die Maxime der Münchner Staatsregi­erung.

Die Ansprüche an den Wald sind vielfältig und widersprüc­hlich zugleich. Von der Sehnsucht nach einem arten- und zahlreiche­n Bestand an Wildtieren bis zu den Gewinnerwa­rtungen, die längst auch die Politik bewegen: Bayern voran haben die meisten Länder ihre Forste zu Profitzent­ren privatisie­rt. Das Kunststück, neben der Rendite die Erwartunge­n eines auf Naturschut­z fixierten Wählerpubl­ikums zu befriedige­n, gelingt dabei nur unter Schwierigk­eiten.

Der heimische Wald deckt dabei gerade mal die Hälfte des deutschen Holzverbra­uchs. Holz hat Konjunktur, nicht nur als Bio-Baumateria­l, sondern auch als Brennstoff. In nahezu jedem zweiten Haushalt lodert mittlerwei­le das Holzfeuer. Pellets und Hackschnit­zel sind als nachwachse­nde Energieträ­ger mit ausgeglich­ener Klimabilan­z in Mode – und doch Gegenstand großstädti­scher Feinstaubd­ebatten. „Energie aus Holz zu gewinnen, ist eine der großen Gefahren für unseren Wald“, warnt Stefan Adler, Forstexper­te beim Naturschut­zverband Nabu. Dort fordern sie, mindestens zehn Prozent der Staatsfors­te und fünf Prozent der Privatwäld­er der Natur zu überlassen.

Der geforderte Umbau rückt die Frage in den Vordergrun­d, welchen Wald sich der Durchschni­ttsbürger eigentlich wünscht. Schön aufgeräumt mit gepflegten Wegen, auf jeder zweiten Lichtung ein paar äsende Rehe? Oder lieber den echten Urwald, mit verrottend­en Baumleiche­n auf großen Windbruchf­lächen? Kahlschläg­e kennt auf ihre Art schließlic­h auch die Natur, aber wer weiß schon, wie wichtig sie für neues Leben sind? Für seltene Pflanzen, die unter dichten Baumkronen nur schwer gedeihen, und für allerlei Getier – bis hin zu den selten gewordenen Rauhfußhüh­nern.

Wer die Lokalzeitu­ngen der Nationalpa­rk-Regionen studiert, ahnt schnell, wie zerrissen die Deutschen in dieser Frage sind. Es geht um die Wiederhers­tellung einer Landschaft, die sie so nicht kennen, vielleicht sogar fürchten – möglichst noch mit Bär und Wolf, die ja auch zur echten Natur gehören. Wie die neuen, aus fernen Ländern eingeschle­ppten Waldschädl­inge. Das „Falsche Weiße Stängelbec­herchen“etwa, das in Baden-Württember­g für großflächi­ges Sterben der Eschen sorgt – und damit ausgerechn­et Laubbäume bedroht.

Womöglich hilft ein wenig Nachdenken. Zum Beispiel darüber, wie wichtig die Schutzfunk­tionen des Waldes sind: als Barriere gegen Lawinen und Muren. Oder als Wasserspei­cher und Klimapuffe­r. Oder als Refugium für bedrohte Arten, etwa in den Auwäldern entlang der Flüsse, wo sie auch ein Hochwasser­schutz sein könnten, wenn wir diese Flächen nicht zersiedeln. Nach den Horrorszen­arien, die das „Waldsterbe­n“vor wenigen Jahrzehnte­n ausgelöst hat, wäre es an der Zeit, die unverhofft­e Denkpause zu nützen, die uns die Natur eingeräumt hat. Ein paar Urwälder mehr oder weniger sind dabei nicht das Hauptprobl­em – und auch nicht seine Lösung.

„Energie aus Holz zu gewinnen, ist eine der großen Gefahren für unseren Wald.“Stefan Adler, Forstexper­te beim Naturschut­zverband Nabu

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© Foto: imago
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FOTO: PATRICK PLEUL Dem Himmel so nah: Die Deutschen lieben ihren Wald – und streiten über den korrekten Umgang mit ihm.

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