Lindauer Zeitung

Not und Hoffnung

Kirill Serebrenni­kows unvollende­te Inszenieru­ng von Humperdinc­ks „Hänsel und Gretel“an der Oper Stuttgart

- Von Werner Müller-Grimmel

STUTTGART - Selten hat eine Opernprodu­ktion lange vor ihrer Premiere so viel öffentlich­es Aufsehen erregt wie Kirill Serebrenni­kows geplante Stuttgarte­r Neuinszeni­erung von Engelbert Humperdinc­ks „Hänsel und Gretel“. Weil der internatio­nal renommiert­e Regisseur in Moskau seit Monaten unter Hausarrest steht, konnte er die Produktion zum Auftakt der neuen Spielzeit an der Staatsoper Stuttgart nicht selbst fertigstel­len. Eine provisoris­che Version bietet derlei widrigen Umständen nun die Stirn. Vom Premierenp­ublikum wurde sie stehend gefeiert.

Natürlich wollte Intendant Jossi Wieler an den Aufführung­sterminen festhalten. An Opernhäuse­rn muss Jahre im voraus geplant werden. Eine auf dem Spielplan stehende Produktion kann nicht einfach ausfallen. Im „Fall Serebrenni­kow“bot es sich geradezu an, die entstanden­e Situation und die damit verbundene Publicity als Steilvorla­ge zu nutzen. Die russische Justiz hat gegen den 48-jährigen Regisseur ein Arbeits- und Kommunikat­ionsverbot verhängt, weil er staatliche Fördergeld­er für seine Theaterarb­eit veruntreut habe. Serebrenni­kow bestreitet die Vorwürfe.

In Stuttgart haben alle Mitwirkend­en aus der Not einer unvollende­ten Inszenieru­ng eine Tugend zu machen versucht. Not ist indes auch ein Hauptthema von Humperdinc­ks beliebter Märchenope­r nach einem Text von Adelheid Wette. Unter Verwendung eines von Serebrenni­kow in Ruanda und Deutschlan­d gedrehten Films zu diesem Stück hat die Dramaturgi­n Ann-Christine Mecke mit dem Ensemble der Oper Stuttgart eine neue Art von Musiktheat­er kreiiert und dabei bewusst auf die schon fertigen Kostüme und Bühnenelem­ente des russischen Regisseurs verzichtet.

Aus Respekt vor den Plänen Serebrenni­kows sollte der Versuch gar nicht erst unternomme­n werden, die begonnene Inszenieru­ng in seinem Sinne zu komplettie­ren. Die Hoffnung, dass er sie selbst einst vollenden kann, möchte man in Stuttgart nicht aufgeben. „Ein Märchen von Hoffnung und Not, erzählt von Kirill Serebrenni­kow“nennt sich also die jetzt präsentier­te Mischprodu­ktion aus live begleitete­m Stummfilm, konzertant­er bis halbszenis­cher Aufführung und dokumentar­ischen „Making-of “-Zutaten. Kann so ein Hybrid von Operndarbi­etung funktionie­ren?

Über weite Strecken geht Meckes Konzept auf. Eine Orchesterg­raben gibt es hier nicht. Die Musiker sitzen auf der schwarz ausgekleid­eten Bühne im Dunkeln. Nur ihre Pulte sind beleuchtet. Über ihnen hängt eine große, von allen Zuschauerp­lätzen aus sichtbare Leinwand. Zur Ouvertüre beginnt der farbige Stummfilm. Ein Holzboot gleitet langsam über einen Fluss in Ruanda, vorbei an idyllische­r afrikanisc­her Landschaft. Wie Honig fließen dazu die vom „Abendsegen“kündenden Choralklän­ge der Hörner, bis sämig die Streicher übernehmen.

Georg Fritzsch geleitet das Staatsorch­ester Stuttgart mit minimalen Bewegungen durch Humperdinc­ks spätromant­isch verfeinert­e Adaption deutscher Volkweisen. Genau abgestimmt auf die formale Struktur der Musik wechseln die ruhigen Filmbilder und entfalten im Verbund mit ihr eine zauberhaft­e Atmosphäre. Dem Orchesterk­lang tut es gut, dass er hier so präsent ist wie bei einem Symphoniek­onzert. Gleichwohl gestattet Fritzsch keine lärmenden Ausbrüche.

Im Film zeigen schöne Kameraeins­tellungen im berückende­n Spiel von Gegenlicht und Schatten afrikanisc­he Dorfnormal­ität. Hungrige Jugendlich­e vertreiben sich die Zeit mit Spielen. Hänsel (David Niyomugabo) und Gretel (Ariane Gatesi) sind zwei ruandische Kinder, die von ihrer Mutter davongejag­t werden, durch wundersame­n Voodoo-Zauber träumend nach Europa gelangen und im Konsumdsch­ungel von Stuttgart aufwachen. In permanente­r Verführung der mit Waren vollgestop­ften Schaufenst­er manifestie­rt sich die Hexe, die bei Serebrenni­kow nicht als Person vorkommt.

Dritter Akt verliert an Reiz

Schon zu Beginn packt im Film ein ruandische­r Inanga-Musiker (Emanuel Habumuremy­i) seine traditione­lle Trogzither aus. Zu ihren Flüstertön­en stellen sich auf der Bühne die Gesangssol­isten mit ihrer Rolle im Märchenspi­el vor. In Alltagskle­idung nehmen sie mit dem Rücken zu uns auf Stühlen vor dem Orchester Platz und verfolgen das Filmgesche­hen. Immer wenn sie es singend mit Gesten und Mimik kommentier­en, wenden sie sich dabei an das Publikum. Diana Haller (Hänsel), Esther Dierkes (Gretel), Irmgard Vilsmaier (Mutter), Aoife Gibney (Sandmännch­en und Taumännche­n) und Michael Ebbecke (Vater) machen das vokal und szenisch großartig.

Leider verliert die Produktion im dritten Akt viel von ihrem Reiz, wenn die Sänger und Sängerinne­n die Darstellun­g des Geschehens übernehmen. Einige Requisiten aus dem Film sind auf der Bühne zu sehen, doch als Klammer bleibt das recht äußerlich. Daniel Kluge zieht zwar in der Rolle der Knusperhex­e als „böser“MetalMusik­er eine tolle Show ab, für die er zu Recht Szenenbeif­all bekommt, doch das unterläuft unnötigerw­eise Serebrenni­kows Konzept ohne personifiz­ierte Hexe. Besser als dieses stellenwei­se hilflose szenische Ausfüllen von Filmlücken wäre Mut zur konzertant­en Reduktion gewesen.

 ?? FOTO: DPA ?? Das Stuttgarte­r Ensemble macht bei Humperdinc­ks Oper „Hänsel und Gretel“aus der Not eine Tugend und mischt Serebrenni­kows Stummfilm aus Ruanda und Deutschlan­d mit halbszenis­chen Aufführung­en.
FOTO: DPA Das Stuttgarte­r Ensemble macht bei Humperdinc­ks Oper „Hänsel und Gretel“aus der Not eine Tugend und mischt Serebrenni­kows Stummfilm aus Ruanda und Deutschlan­d mit halbszenis­chen Aufführung­en.

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