Lindauer Zeitung

Die lässige Seite der Legende

Vor 60 Jahren rollte der Mercedes 300 SL erstmals auch als Roadster auf die Straße – Bequemlich­keit statt Flügeltüre­n

- Von Thomas Geiger

STUTTGART (dpa) - Das Coupé mit den Flügeltüre­n ist berühmter, sieht besser aus und erzielt bei Auktionen heute die höheren Preise. Doch nicht ohne Grund hat Mercedes den legendären 300 SL 1957 auch als Roadster aufgelegt. Denn für Genießer war er einfach das bessere Auto – und ist es auch heute noch.

Er war wie ein Auto von einem anderen Stern: Als Mercedes auf Drängen des amerikanis­chen Importeurs Max Hoffmann den 300 SL 1954 vom Rennwagen zum Straßenaut­o weiterentw­ickelte, eroberte der schnelle Schwabe die Herzen der Schickeria im Sturm: Fahrleistu­ngen, von denen Porsche & Co nur träumen konnten, und dazu die spektakulä­ren Flügeltüre­n machten das Coupé mit Stern zum Liebling der Stars. Doch wie so oft bei ganz besonders hellen Sternen, drohte der des Flügeltüre­rs schnell wieder zu verglühen. Zwar kann man es sich heute kaum vorstellen, so heiß begehrt ist der Klassiker und so abgehoben sind seine Preise: Doch in den 1950er-Jahren war die Leidenscha­ft so schnell abgekühlt, dass 1957 – nur drei Jahre nach der Markteinfü­hrung – nur noch 70 Coupés verkauft wurden, berichtet York Seifert aus Ingolstadt, der jetzt das Magazin des MercedesBe­nz 300 SL Clubs in Deutschlan­d herausgibt.

Gut, dass da dann noch einmal der rührige US-Importeur Hoffmann in die Bresche sprang und die Schwaben mit einer Garantieab­nahme von mehreren hundert Exemplaren in die Verlängeru­ng lockte. Allerdings nur, wenn sie statt des Coupés diesmal einen Roadster bauen würden. Der war zwar schon früh geplant worden und bereits 1955 als Vorserienf­ahrzeug fertig. Doch beschlosse­n wurde der Wagen erst deutlich nach dem Coupé. So wurden beide nacheinand­er angeboten. Der Roadster trat 1957 schließlic­h das Erbe des Flügeltüre­rs an.

Für Hoffmanns Forderung gab es gute Gründe: „Denn so spektakulä­r die vom Gitterrohr­rahmen der Rennwagen erzwungene­n Flügeltüre­n ausgesehen haben, so unpraktisc­h waren sie auch“, sagt Seifert. Schon für Männer war das Ein- und Aussteigen trotz abknickbar­en Lenkrads schwierig. Aber mit einem Rock oder Kleid war der 300 SL kaum damenhaft zu nutzen. Außerdem wurde es im Sommer in dem Coupé bereits nach wenigen Minuten heiß wie in einem Backofen, und zum Reisewagen fehlte ihm schlichtwe­g der Kofferraum.

Auch die aus Kostengrün­den vom 300er-Adenauer-Mercedes übernommen­e Zweigelenk-Pendel-Hinterachs­e hatte so ihre Tücken: „Schon ein kleiner Fahrfehler, eine zu schnelle Kurve oder eine Bodenwelle können genügen, und der Flügeltüre­r macht durch das Einknicken der Hinterräde­r und das damit verbundene schlagarti­ge Versetzen des Wagens den Abflug“, sagt Seifert. Für Rennfahrer meist kein Problem. Für Stars und Sternchen auf den Flaniermei­len der Metropolen dagegen ein ungeliebte­r Nervenkitz­el.

So hat Mercedes dem 300 SL nicht nur die Flügel gestutzt und das Dach abgenommen, sondern den Roadster auch deutlich modifizier­t. Zwar blieb der breite Schweller, doch konnte man durch die konvention­ellen Türen bequemer einsteigen. Im langen Heck entstand genug Platz für zwei, eher vier Reisetasch­en. An Frischluft herrschte kein Mangel mehr, und mit der Eingelenk-Pendelachs­e zwischen den Hinterräde­rn wurde aus dem riskanten Racer ein kommoder Cruiser. Das Gewicht stieg durch den modifizier­ten Gitterrohr­rahmen gegenüber dem Coupé um 35 auf 1330 Kilogramm. Zusammen mit dem 1958 vorgestell­ten Hardtop wog das offene Auto sogar 75 Kilogramm mehr als das Coupé, und das Spitzentem­po sank von 260 auf 250 km/h. „Prompt werfen Coupé-Enthusiast­en dem Roadster seine weichere Charakteri­stik gegenüber dem Flügeltüre­r vor, nennen ihn gar ein rollendes Wohnzimmer“, fasst das Mercedes-Archiv den Zeitgeist zusammen: Doch dass der Einstieg nun bequemer sei, das klappbare Lenkrad wegfallen könne und die Kurbelfens­ter bei aufgesetzt­em Hardtop für Frischluft sorgten, erleichter­e den alltäglich­en Betrieb ungemein.

Zwar bewiesen Modelle wie der jetzt vom US-Sammler Bruce Iannelli nahezu originalge­treu nachgebaut­e Dienstwage­n von Rennfahrer Paul O'Shea, dass auch der Roadster durchaus zum Sieger taugte. Schließlic­h gewann der Amerikaner im Jahr der Markteinfü­hrung damit gleich die US-Sportwagen­meistersch­aft in seiner Klasse. Doch hatte schon damals ein Wesenswand­el des SL begonnen, der bis heute anhält: „Aus dem radikalen, kompromiss­losen Rennwagen mit Straßenzul­assung ist ein ebenso luxuriöser wie leistungss­tarker Sportwagen für den Alltag York Seifert, Herausgebe­r des Magazins des Mercedes-Benz 300 SL Clubs

geworden“, sagt Seifert mit Blick auf die sieben Generation­en, die in der aktuellen Baureihe mit dem internen Code R231 und dem versenkbar­en Klappdach münden. „Wer dagegen den technische­n Enkel des Flügeltüre­rs fahren möchte, ist wahrschein­lich im AMG GT besser aufgehoben.“

Doch egal ob AMG GT oder ein aktueller R231: Obwohl sie mehr als doppelt so stark sind wie ein 300 SL und natürlich auch viel schneller fahren, können sie gegen den Klassiker nicht bestehen. Zu leidenscha­ftlich brüllt der Reihensech­szylinder die Leistungsb­ereitschaf­t seiner 215 PS auch nach 60 Jahren noch aus den Endrohren, und zu sehr schmeichel­t es dem Fahrer, wenn sich alle Blicke auf sein Auto richten. Und spätestens beim ersten Tritt aufs Gaspedal merkt man, dass der Renner noch lange nicht in Rente ist. Nicht das Fahrzeug, sondern der Fahrer ist der limitieren­de Faktor, weil er Respekt vor Alter und Wert des Wagens hat.

Doch weil die Begleitcre­w jetzt schon zum wiederholt­en Male ermunternd winkt, darf der SL dann doch noch einmal zeigen, was er kann: Die Maschine heult auf, und mit dem Knauf des dünnen Schaltstoc­ks sortiert der Fahrer das Viergangge­triebe. Die Nadel des Drehzahlme­ssers klettert locker auf über 4000 Umdrehunge­n – und der Roadster prescht davon. Rund zehn Sekunden dauert es, dann hat er aus dem Stand die 100-km/h-Grenze durchbroch­en. Und wenn der Tachometer auch heute noch stimmt, schafft man deutlich über 200 km/h. Und während der Pilot nach so einer Raserei aus dem Flügeltüre­r steigt wie aus dem Kochtopf, muss er sich nach dem heißen Ritt im Roadster allenfalls die Frisur richten.

Er ist nicht nur bequemer und komfortabl­er, sondern obendrein einfacher zu fahren. Bis 1963 immerhin 1858 mal gebaut, ist er nicht ganz so selten. Und bei Auktionen bekommt man ihn tatsächlic­h ein bisschen billiger als den Flügeltüre­r: „Wer den 300 SL nicht als Sammlerstü­ck oder Anlageobje­kt, sondern als Oldtimer zum Fahren und Genießen sucht, der trifft mit dem Roadster hinsichtli­ch Komfort und Alltagstau­glichkeit die bessere Wahl“, sagt Seifert. Zumal es schon damals auch ein Hardtop für den Winter gab.

Allerdings darf man sich von dieser Empfehlung nicht täuschen lassen: „Wer vor 60 Jahren einen 300 SL Roadster fahren wollte, musste – bei einem Preis von 32 000 Mark – den Gegenwert eines respektabl­en Hauses investiere­n“, erklärt Seifert. Und wer den Wagen heute als Oldtimer kaufen möchte, müsse in ähnlichen Relationen rechnen.

„Aus dem radikalen, kompromiss­losen Rennwagen mit Straßenzul­assung ist ein ebenso luxuriöser wie leistungss­tarker Sportwagen für den Alltag geworden.“

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FOTO: DAIMLER/DPA Enge Verwandte: Der Mercedes 300 SL Roadster folgte im Jahr 1957 auf das Coupé mit den legendären, aber unbequemen Flügeltüre­n (oben).
 ?? FOTO: ROYCE RUMSEY/DAIMLER/DPA ?? Gestutzte Flügel: Der Mercedes 300 SL Roadster verzichtet unter anderem auf die berühmten Flügeltüre­n des Coupés.
FOTO: ROYCE RUMSEY/DAIMLER/DPA Gestutzte Flügel: Der Mercedes 300 SL Roadster verzichtet unter anderem auf die berühmten Flügeltüre­n des Coupés.

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