Die Rückkehr des 100-Prozent-Menschen
Kimmich trifft in Leipzig auf seine Vergangenheit und sucht das perfekte Spiel
MÜNCHEN - So richtig wusste Joshua Kimmich nicht mit der Situation umzugehen. Als der Bayern-Profi am Wochenende beim Spiel in Hamburg auf der Ersatzbank saß, knetete er unruhig seine Hände. Als er später zum Aufwärmen geschickt wurde, tippelte er nervös von einem Bein aufs andere. Von draußen zuschauen? Kennt Kimmich nicht. Der 22jährige gebürtige Rottweiler hatte in dieser Spielzeit jedes Pflichtspiel von Beginn an bestritten.
Der neue, alte Trainer Jupp Heynckes unterstrich mit dem einmaligen Verzicht, wie wichtig ihm der Rechtsverteidiger ist. Eine Zwangspause als Wertschätzung für den Nachfolger von Philipp Lahm, der schon bewiesen hat, dass ihm die Fußstapfen des letzten Sommer zurückgetretenen Weltmeisters, der Benchmark als Rechtsverteidiger überhaupt, nicht zu groß sind. Denn Heynckes braucht Kimmich – seit der EM 2016 in der Nationalelf Stammspieler – wenn es wirklich wichtig wird. Am Mittwoch geht es bei RB Leipzig um den Einzug ins DFB-Pokal-Achtelfinale.
An Kimmichs früherer Wirkungsstätte, die eine Entwicklungsstätte war, die Vorstufe auf dem Weg zum Durchbruch. Die Zeit ab Sommer 2013 in der Jugendakademie von RB Leipzig hat ihn gestählt, für ihn im Rückblick „eine der härtesten Zeiten meines Lebens“. Los ging es mit einer Leistenverletzung, die ihn nach seinem Wechsel aus der A-Jugend des VfB Stuttgart über Monate zurückwarf. Er konnte lediglich abseits der Mannschaft mit einem Individualtrainer arbeiten.
Eine einsame Zeit für einen, der gerade volljährig geworden war. „Ich kannte die Stadt nicht und konnte meine Teamkollegen nicht kennenlernen. Stattdessen war ich alleine in einem Hotel, nur mit einem Fernseher, meinem Laptop und meinem Handy“, erzählte Kimmich.
Das Heimweh zu den Eltern und Freunden im 550 Kilometer entfernten Bösingen im Landkreis Rottweil war der treueste Begleiter. „Ich habe mich so allein gefühlt.“Sein Mentor und Förderer Ralf Rangnick, Sportdirektor bei RB, bestärkte ihn so lange bis Kimmich beschloss: „Ich habe diese Chance und muss sie nutzen.“
Er begründete mit dem jungen dänischen Stürmer Yussuf Poulsen eine Wohngemeinschaft. Und nahm die Dinge in die Hand. „Joshua hat mich ein bisschen miterzogen“, erinnert sich Poulsen, „er war ordentlicher als ich. Bei ihm musste immer alles perfekt aufgeräumt sein.“Dann gab er auch auf dem Platz dem Spiel der Bullen Struktur. Am Ende der Drittliga-Saison stieg er mit Leipzig in Liga zwei auf. Der FC Bayern mit seinem damaligen Trainer Pep Guardiola wurde auf den defensiven Mittelfeldspieler aufmerksam. Schlicht, weil dieser Kimmich, in der Jugend noch als zu leicht und schmächtig eingeschätzt, auch eine Klasse höher stets zu den Besten gehörte. Bei Bayern erkannte man das Supertalent und überwies im Rückblick lächerliche 7,5 Millionen Euro an den VfB Stuttgart, der noch die Transferrechte hielt. Während Guardiola ihn förderte, wie ein Vater seinen Sohn, setzte ihn Ancelotti ab Sommer 2016 allzu oft auf die Bank. Unter Heynckes ist er wieder gesetzt. Kimmichs heutiger Marktwert, ausgestattet mit einem Vertrag bis 2020: Laut „transfermarkt.de“25 Millionen Euro, was jedoch sehr niedrig angesetzt ist. Topclubs aus Europa würden sicher mehr als das Doppelte bezahlen.
Für Kimmich ist das Pokalspiel in seiner alten Heimat ein ganz besonderes. Nicht nur wegen der Erinnerungen und guter Kumpels wie Poulsen, sondern auch wegen Lina, seiner Freundin, die er in Leipzig kennengelernt hat. Die Jura-Studentin jobbte bei RB im Fanshop und Ticketing. Im Sommer beendete das Paar die zweijährige Fernbeziehung, Lina zog nach München. Dort bekommt sie nun nach Niederlagen seine schlechte Stimmung ab, erzählt er und lacht. Wenn er mal frei hat, gehen sie „in ein Café oder fahren mit dem Rad zu einem der Seen“rund um München. „Da bekomme ich schnell Abstand vom Fußball“, sagt Kimmich. Um seine Freizeit sinnvoll zu nutzen, hatte er überlegt, ein Studium anzufangen, BWL oder Psychologie – zu zeitaufwändig. Jetzt lernt Kimmich Spanisch und hat dafür eigens einen Privatlehrer engagiert.
Der Abiturient mit Abschlussnote 1,7, ist ein Ganz-oder-gar-nicht-Typ, sagt über sich: „Ich bin ein 100-Prozent-Mensch.“Siehe Hamburg.
Kimmich durfte erst in der Nachspielzeit ran. Nach wenigen Sekunden, ohne Ballberührung, vernahm er den Schlusspfiff. Dennoch klatschte er jeden Mitspieler ab, feierte das 1:0 mit den Fans in der Kurve. „Das perfekte Spiel habe ich definitiv noch nicht gemacht“, sagt er. Typisch Ehrgeizling Kimmich. Typisch 100-Prozent-Mensch.
Der FC Bayern muss die anstehenden Aufgaben ohne Thomas Müller angehen. Der Offensiv-Akteur fällt wegen eines Muskelfaserrisses im rechten, hinteren Oberschenkel „voraussichtlich drei Wochen“aus, so der Verein. Zudem droht Mats Hummels wegen eines Kapselrisses im Sprunggelenk eine Pause.