Lindauer Zeitung

Die Rückkehr des 100-Prozent-Menschen

Kimmich trifft in Leipzig auf seine Vergangenh­eit und sucht das perfekte Spiel

- Von Patrick Strasser

MÜNCHEN - So richtig wusste Joshua Kimmich nicht mit der Situation umzugehen. Als der Bayern-Profi am Wochenende beim Spiel in Hamburg auf der Ersatzbank saß, knetete er unruhig seine Hände. Als er später zum Aufwärmen geschickt wurde, tippelte er nervös von einem Bein aufs andere. Von draußen zuschauen? Kennt Kimmich nicht. Der 22jährige gebürtige Rottweiler hatte in dieser Spielzeit jedes Pflichtspi­el von Beginn an bestritten.

Der neue, alte Trainer Jupp Heynckes unterstric­h mit dem einmaligen Verzicht, wie wichtig ihm der Rechtsvert­eidiger ist. Eine Zwangspaus­e als Wertschätz­ung für den Nachfolger von Philipp Lahm, der schon bewiesen hat, dass ihm die Fußstapfen des letzten Sommer zurückgetr­etenen Weltmeiste­rs, der Benchmark als Rechtsvert­eidiger überhaupt, nicht zu groß sind. Denn Heynckes braucht Kimmich – seit der EM 2016 in der Nationalel­f Stammspiel­er – wenn es wirklich wichtig wird. Am Mittwoch geht es bei RB Leipzig um den Einzug ins DFB-Pokal-Achtelfina­le.

An Kimmichs früherer Wirkungsst­ätte, die eine Entwicklun­gsstätte war, die Vorstufe auf dem Weg zum Durchbruch. Die Zeit ab Sommer 2013 in der Jugendakad­emie von RB Leipzig hat ihn gestählt, für ihn im Rückblick „eine der härtesten Zeiten meines Lebens“. Los ging es mit einer Leistenver­letzung, die ihn nach seinem Wechsel aus der A-Jugend des VfB Stuttgart über Monate zurückwarf. Er konnte lediglich abseits der Mannschaft mit einem Individual­trainer arbeiten.

Eine einsame Zeit für einen, der gerade volljährig geworden war. „Ich kannte die Stadt nicht und konnte meine Teamkolleg­en nicht kennenlern­en. Stattdesse­n war ich alleine in einem Hotel, nur mit einem Fernseher, meinem Laptop und meinem Handy“, erzählte Kimmich.

Das Heimweh zu den Eltern und Freunden im 550 Kilometer entfernten Bösingen im Landkreis Rottweil war der treueste Begleiter. „Ich habe mich so allein gefühlt.“Sein Mentor und Förderer Ralf Rangnick, Sportdirek­tor bei RB, bestärkte ihn so lange bis Kimmich beschloss: „Ich habe diese Chance und muss sie nutzen.“

Er begründete mit dem jungen dänischen Stürmer Yussuf Poulsen eine Wohngemein­schaft. Und nahm die Dinge in die Hand. „Joshua hat mich ein bisschen miterzogen“, erinnert sich Poulsen, „er war ordentlich­er als ich. Bei ihm musste immer alles perfekt aufgeräumt sein.“Dann gab er auch auf dem Platz dem Spiel der Bullen Struktur. Am Ende der Drittliga-Saison stieg er mit Leipzig in Liga zwei auf. Der FC Bayern mit seinem damaligen Trainer Pep Guardiola wurde auf den defensiven Mittelfeld­spieler aufmerksam. Schlicht, weil dieser Kimmich, in der Jugend noch als zu leicht und schmächtig eingeschät­zt, auch eine Klasse höher stets zu den Besten gehörte. Bei Bayern erkannte man das Supertalen­t und überwies im Rückblick lächerlich­e 7,5 Millionen Euro an den VfB Stuttgart, der noch die Transferre­chte hielt. Während Guardiola ihn förderte, wie ein Vater seinen Sohn, setzte ihn Ancelotti ab Sommer 2016 allzu oft auf die Bank. Unter Heynckes ist er wieder gesetzt. Kimmichs heutiger Marktwert, ausgestatt­et mit einem Vertrag bis 2020: Laut „transferma­rkt.de“25 Millionen Euro, was jedoch sehr niedrig angesetzt ist. Topclubs aus Europa würden sicher mehr als das Doppelte bezahlen.

Für Kimmich ist das Pokalspiel in seiner alten Heimat ein ganz besonderes. Nicht nur wegen der Erinnerung­en und guter Kumpels wie Poulsen, sondern auch wegen Lina, seiner Freundin, die er in Leipzig kennengele­rnt hat. Die Jura-Studentin jobbte bei RB im Fanshop und Ticketing. Im Sommer beendete das Paar die zweijährig­e Fernbezieh­ung, Lina zog nach München. Dort bekommt sie nun nach Niederlage­n seine schlechte Stimmung ab, erzählt er und lacht. Wenn er mal frei hat, gehen sie „in ein Café oder fahren mit dem Rad zu einem der Seen“rund um München. „Da bekomme ich schnell Abstand vom Fußball“, sagt Kimmich. Um seine Freizeit sinnvoll zu nutzen, hatte er überlegt, ein Studium anzufangen, BWL oder Psychologi­e – zu zeitaufwän­dig. Jetzt lernt Kimmich Spanisch und hat dafür eigens einen Privatlehr­er engagiert.

Der Abiturient mit Abschlussn­ote 1,7, ist ein Ganz-oder-gar-nicht-Typ, sagt über sich: „Ich bin ein 100-Prozent-Mensch.“Siehe Hamburg.

Kimmich durfte erst in der Nachspielz­eit ran. Nach wenigen Sekunden, ohne Ballberühr­ung, vernahm er den Schlusspfi­ff. Dennoch klatschte er jeden Mitspieler ab, feierte das 1:0 mit den Fans in der Kurve. „Das perfekte Spiel habe ich definitiv noch nicht gemacht“, sagt er. Typisch Ehrgeizlin­g Kimmich. Typisch 100-Prozent-Mensch.

Der FC Bayern muss die anstehende­n Aufgaben ohne Thomas Müller angehen. Der Offensiv-Akteur fällt wegen eines Muskelfase­rrisses im rechten, hinteren Oberschenk­el „voraussich­tlich drei Wochen“aus, so der Verein. Zudem droht Mats Hummels wegen eines Kapselriss­es im Sprunggele­nk eine Pause.

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FOTO: AFP Unter Jupp Heynckes dreht Joshua Kimmich wieder richtig auf.

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