Lindauer Zeitung

Zeitversch­wendung oder kreative Phase

Ein Drittel des Lebens verbringt der Mensch schlafend – Eine Ausstellun­g in Bremen zeigt, dass Schlaf auch als Kunstform gesehen werden kann

- Von Irena Güttel

BREMEN (dpa) - Nicht mehr lange, dann kann Virgile Novarina endlich schlafen. Sein Bett hat er schon gemacht – in einer Ecke des Paula Modersohn-Becker Museums in Bremen. Auf einer roten Luftmatrat­ze will er vor den Augen der vielen Besucher friedlich schlummern. Damit das klappt, hält er sich zwei Tage am Stück wach. „Egal ob Lärm, Licht oder Leute – ich will dann einfach nur noch schlafen“, sagt der 42-Jährige. Das klingt verrückt, ist aber Kunst.

Die Performanc­e hat der Franzose eigens für die Eröffnung der Ausstellun­g „Schlaf. Eine produktive Zeitversch­wendung“entwickelt. 70 zeitgenöss­ische Gemälde, Fotografie­n, Installati­onen und Skulpturen widmen sich darin den verschiede­nen Facetten des Schlafs. Die aktuellste Arbeit ist die von Novarina. Während er schläft, zeichnet ein EEGStirnba­nd seine Hirnströme auf, die auf einer Leinwand visualisie­rt werden. „Ich will zeigen, dass Schlaf etwas Aktives und Kreatives ist, obwohl der Schlafende bewegungsl­os daliegt.“

Schlafen muss jeder

Schlafen muss jeder. Doch wie man schläft, ist ganz unterschie­dlich. Es gibt Langschläf­er, Frühaufste­her, Menschen, die bei jedem Geräusch hochschrec­ken und andere, die regelmäßig ihren Wecker überhören. Zehn Stunden sollen sich Goethe und Albert Einstein pro Nacht gegönnt haben. Von Leonardo da Vinci wird dagegen berichtet, dass er alle vier Stunden nur eine Viertelstu­nde geschlafen haben soll, um möglichst viel Zeit für seine Arbeit zu haben.

„Sleep is a waste of time“(deutsch: „Schlaf ist Zeitversch­wendung“) – auf dieses Zitat der südafrikan­ischen Künstlerin Marlene Dumas spiele der Untertitel der Ausstellun­g an, sagt Museumsdir­ektor und Kurator Frank Schmidt. Schlaf ist ein Grundbedür­fnis. Dennoch ist dieser in unseren Breitengra­den oft negativ besetzt – vor allem der Schlaf tagsüber. „Das wird mit Faulheit gleichgese­tzt.“Einen Kontrapunk­t dazu setzt die Ausstellun­g, indem sie zeigt, dass Schlaf etwas Schönes und Inspiriere­ndes sein kann.

Über Stunden filmte Andy Warhol 1963 seinen damaligen Lebensgefä­hrten John Giorno beim Schlafen. In dem grobkörnig­en Schwarz-WeißStreif­en sieht man über lange Zeit nur einen nackten, behaarten Brustkorb, der sich hebt und senkt, oder Nasenlöche­r in Nahaufnahm­e. Auch Paula ModersohnB­ecker zeichnete und malte ihren Mann Otto Modersohn im Schlaf, Oskar Moll porträtier­te seine schlafende Frau auf der Hochzeitsr­eise. Damit gewähren sie einen Einblick in sehr private, intime Momente. Virgile Novarina, Künstler

Optimierun­g und Störung

Schlaf ist eine private Angelegenh­eit, aber nicht nur. Wie lange und wie gut man schläft, ist ein beliebtes Gesprächst­hema. Untersuchu­ngen des Schlaffors­chers Jürgen Zulley haben ergeben, dass etwa 40 Prozent der Deutschen unzufriede­n mit ihrem Schlaf sind. 10 bis 15 Prozent leiden sogar an Schlafstör­ungen. Wer leistungsf­ähig sein will, muss ausreichen­d schlafen – diese Erkenntnis hat sich im Zuge eines stärkeren Gesundheit­sbewusstse­ins durchgeset­zt. Deshalb versuchen Menschen inzwischen auch, ihren Schlaf mit Hilfe von Apps und Messgeräte­n zu optimieren.

Dennoch sind viele peinlich berührt, wenn jemand in der Öffentlich­keit schläft. In einem Gemälde von Slawomir Elsner verschwind­et ein Obdachlose­r unter einer Decke – er schläft mitten in der Stadt, doch ist er quasi unsichtbar. Im Animations­film „Immer müder“von Jochen Kuhn geht es um einen Mann, der immer einschläft – auf dem Gehweg, bei der Rede im Parlament, beim Rendezvous. Er geht sogar zum Arzt, der ihm attestiert, kerngesund zu sein. Am Ende kommt der Protagonis­t zum Schluss: „Es ist wohl nicht zu ändern.“Es sei auch einfach zu herrlich, loszulasse­n und wegzudämme­rn.

„Ich will zeigen, dass Schlaf etwas Aktives und Kreatives ist, obwohl der Schlafende bewegungsl­os daliegt.“

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Die Maske „Kitsune-Head“von Leiko Ikemura ist auch in der Bremer Ausstellun­g zu sehen.
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FOTOS: DPA Der Künstler Virgile Novarina liegt während seiner Performanc­e über den Schlaf auf einer roten Matratze.

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