Über die Entmenschlichung des Menschen
Der Therapeut Jan Kizilhan berichtet beim „Talk im Bock“über den „Islamischen Staat“, seine Opfer und die Motive der Täter
LEUTKIRCH - Der Abend endet mit dem Satz von Moderatorin Jasmin Off, der fast wie eine Entschuldigung klingt: „Es war ein schwermütiges Thema, nicht so launig wie viele andere dieser Reihe.“Der 190. Leutkircher Talk im Bock aber ließ die Gäste im Leutkircher Cubus nicht kalt. Der Psychotherapeut Jan Kizilhan, Kenner des „Islamischen Staates“und maßgeblich verantwortlich für die Betreuung von 1000 zur Behandlung nach Deutschland gebrachten missbrauchten Jesidinnen, lieferte Einblicke in eine brutale Welt. Auch er sagt einmal im Verlauf dieser dichten zwei Stunden: „Es ist grausam, dass ich ihnen diese Geschichte erzählen muss.“
Kapitel 1 des Abends, die Opfer. Kizilhan lässt keinen Zweifel daran, dass er die Verfolgung der religiösen Minderheit durch den IS im Norden des Irak als Völkermord, als Genozid, einstuft. Das Drama nahm im August 2014 seinen Lauf, als Tausende Angehörige dieser Religion im SindscharGebirge eingekesselt waren. „Es ging dem IS darum, diese nicht-islamische Gruppe auszulöschen.“Männer wurden hingerichtet, Frauen und Mädchen vergewaltigt auch aus der Überzeugung heraus, diese so zu Musliminnen zu machen. Sie wurden auch verkauft. Schlimme Begleiterscheinung: In ihrer eigenen Volksgruppe galten diese Frauen fortan als entehrt. „Ziel war immer auch die Demütigung ihrer Gesellschaft“, erläutert Kizilhan.
Die baden-württembergische Landesregierung legte 2015 ein Sonderprogramm auf mit dem Ziel, 1000 dieser Opfer ins Land zur Behandlung zu holen. Kizilhan berichtet, 1403 Frauen und Mädchen habe er persönlich untersucht. Und irgendwann standen er und sein Team vor der schwierigen Entscheidung, eine Auswahl treffen zu müssen. Wer ist behandelbar? „Es gab keine Blaupause.“Wem ist zu glauben? Ein Umstand habe ihm dabei geholfen, sagt Kizilhan. Er spricht auch den Dialekt dieser Menschen, und im Orient fülle der „Doktor“eine besondere Rolle aus: „Er hat kein Geschlecht.“Auch deshalb glaubt Kizilhan, dass die Opfer ihm vertrauten, und dass es gerecht dabei zugegangen sei, wer nach Deutschland reisen konnte.
Parallel musste er auch jesidische Vertreter vor Ort dazu bringen, die Mädchen und Frauen nicht aus ihrer Religionsgruppe auszuschließen. „Baba Scheich“, der sehe mit seinem wallenden weißen Bart aus wie ein Nikolaus, sei dabei eine Schlüsselrolle zugekommen und habe die Haltung verändert. Deutschland sei ein gutes, ein sicheres Land, habe dieser unter den Jesiden verbreitet. „Wenn eine Gesellschaft auch auf das Wohl der Frösche achtet“, sei das ein klarer Beleg dafür. Vereinzelt kann an diesem Abend geschmunzelt werden.
Kapitel 2 des Abends, die Täter: Kizilhan hat auch IS-Kämpfer interviewt. Er hat mit Männern gesprochen, die tagsüber in der lange Zeit vom IS kontrollierten syrischen Stadt Rakka Menschen enthaupteten. Die anfangs die Sorge hatten, schlechte Schlächter zu sein, wenn der erste Schlag nicht saß. Und später Spaß daran fanden, auch stumpfe Schwerter einzusetzen. „Und am Abend kamen sie nach Hause zu ihrer Frau und ihren Kindern und waren liebevolle Väter.“Ein Stöhnen geht durch den Saal. Kizilhan berichtet über die „Entmenschlichung des Menschen“durch eine Ideologie, die sich durch einzelne Passagen des Koran bestärkt sieht. Die darauf ausgerichtet ist, die Gesellschaft zu spalten. Der Grundkonflikt im Islam zwischen Sunniten und Schiiten kommt zur Sprache als ein Element, die Ablehnung westlicher Werte als weiteres Motiv der Radikalisierung, und das Ziel, den Krieg nach Europa oder in die USA zu verlagern. Die Entlassung vieler hoher Generäle im Irak im Jahr 2011 habe außerdem dazu beigetragen, die militärische Führung des IS zu stärken.
Kritik an muslimischer Welt
Kapitel 3 des Abends, der Therapeut: Kizilhan bezeichnet sich als „nicht sehr religiösen Menschen“. Mit sechs Jahren ist der Sohn kurdischer Eltern nach Deutschland gekommen. Studiert und gearbeitet hat er außer in Deutschland auch in den USA. Er vermisst bis heute, dass die große Mehrheit der muslimischen Welt nicht wirklich aufsteht gegen jene, die im Namen des Islam die Verbrechen verübten. Als Therapeut aber gibt es für ihn keinen Unterschied zwischen Guten und Bösen. Er will den Opfern helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Er will auch dazu beitragen, dass Täter einsichtig werden, sich zu ihrer Schuld bekennen, dass Rückkehrer nicht auf Dauer geächtet sind – unabhängig von den Bestrebungen, sie vor Gericht zu stellen.
Aber wie geht er mit all diesen Einzelschicksalen, die er kennt, um? „Ich habe gelernt, klar zu trennen zwischen Beruf und Privatem. Ich kann sehr gut abschließen. Die Probleme der Patienten sind nicht meine Probleme.“Das klingt hart. Aber der Therapeut muss so sein. Während der vielen Gespräche vor Ort, während der Gespräche mit Opfern und Tätern, seien viele Dolmetscher zusammengebrochen.
Wahrlich kein leichter Stoff. Der Dialog zwischen einer bestens vorbereiteten Moderatorin und einem erfahrenen Experten hat fernab von plattem Schwarz-Weiß-Denken sensibilisiert, sogar Hoffnung gemacht. Ein Teil der Frauen habe es bereits geschafft, ihre bitteren Erfahrungen hinter sich zu lassen.