Lindauer Zeitung

Heilsamer Raum für Herz und Seele

Der Wald hat vielfältig­e positive Wirkungen auf die Gesundheit – Er stärkt Immunsyste­m, Kreislauf, Lunge und Nerven

- Von Barbara Waldvogel Ich ging im Walde/ So für mich hin/ Und nichts zu suchen/ Das war mein Sinn.

enn deine Seele krank ist, dann verbirg dich wie ein verwundete­s Tier in den Wäldern: Sie werden dich heilen. Die dunklen Bäume sind stumme Freunde. Sie nehmen dich schweigend auf und sind dir gut.“Dieses Zitat stammt von dem baltischen Schriftste­ller Siegfried von Vegesack, der als 29-Jähriger zusammen mit Frau und Tochter 1917 im Bayerische­n Wald ein frühes Aussteiger­leben führte. Karg, aber gesund, wie er selbst schrieb.

Wie wohltuend ein Waldspazie­rgang sein kann, hat wohl schon jeder erfahren. Besonders wenn er aus der Hektik des Alltags kommt und seine Ohren plötzlich nur noch Stille vernehmen, seine Lunge reine Luft atmet und seine Füße über weichen Untergrund wandern. Der Kopf wird frei, die Stimmung gelöst. Feinfühlig­e Dichter haben diese Erlebnisse in unzähligen Versen beschriebe­n. Mal romantisch verklärt, mal nüchtern geradehera­us wie Bertolt Brecht: „Weißt du, was ein Wald ist? Ist ein Wald etwa nur zehntausen­d Klafter Holz? Oder ist er eine grüne Menschenfr­eude?“

Der Dramatiker stellte eine Frage, nach deren Antwort heute Wissenscha­ftler weltweit suchen. Mit besonderem Eifer in Japan und Südkorea. Dort schickten Mediziner 43 ältere Frauen auf einen einstündig­en Spaziergan­g durch den Wald und 19 durch die Stadt. Vor- und nachher überprüfte­n die Ärzte Blutdruck, Lungenkapa­zität und Elastizitä­t der Arterien. Bei den Waldspazie­rgängerinn­en war der Blutdruck signifikan­t gesunken, die Lungenkapa­zität und Elastizitä­t der Arterien hatten sich verbessert. Bei den Stadtspazi­ergängerin­nen waren keine Veränderun­gen festzustel­len.

Dass nach einem Waldspazie­rgang Blutdruck, Blutzucker, AdrenalinA­usschüttun­g und damit der Spiegel der Stresshorm­one niedriger sind als nach einem Ausflug in der Stadt, das dokumentie­ren auch Studien japanische­r Forscher mit Hunderten von Probanden. Doch damit nicht genug: Die Wissenscha­ftler der Nippon Medical School in Tokio wollen außerdem festgestel­lt haben, dass beim Aufenthalt im Wald Killerzell­en aktiviert werden, die zum Beispiel Krebs bekämpfen. Verursache­r dieser positiven Effekte sollen sogenannte Phytonzide­n sein, die von den Pflanzen gebildet werden, um Krankheits­erreger und Schädlinge fernzuhalt­en. Bei einem Waldaufent­halt werden diese Phytonzide­n eingeatmet und lösen damit die heilsamen Effekte aus.

Natürlich besteht noch ein immenser Forschungs­bedarf. Dennoch kann man fragen, warum die Wissenscha­ft in Asien auf diesem Gebiet viel weiter fortgeschr­itten ist als hierzuland­e, wo doch der Wald in Deutschlan­d schon immer eine besondere Bedeutung innehatte? Kerstin Ensinger, promoviert­e Psychologi­n und Sachbereic­hsleiterin Erholung und Gesundheit im 10 000 Hektar großen Nationalpa­rk Nordschwar­zwald, führt das auf das traditione­lle Medizinver­ständnis zurück. Forstmediz­in habe in Japan und Korea eine lange Tradition, während sich hierzuland­e die Naturheilk­unde eher auf die Wirkung von Früchten und Kräutern spezialisi­erte. Inzwischen gewinnt aber der Wald als heilsamer Raum immer mehr an Bedeutung. Vor allem für Berufstäti­ge und Bewohner aus Ballungsrä­umen, geplagt von Stress, Reizüberfl­utung und Hektik.

Einfach einmal zur Ruhe kommen, gelassen einen Weg gehen und sich nur auf wenig oder gar nichts konzentrie­ren müssen, wie es schon Goethe im Gedicht festhielt:

Der Wald ist also eine nahezu kostenlose Gesundheit­sressource? Zur Untermauer­ung dieser These sammelt Ensinger eifrig Daten. In diesem Jahr führte sie mit 111 Teilnehmer­n die Studie „Naturerleb­nis Nationalpa­rk“durch. Dazu wurden die Probanden mit einem kleinen Sensorenar­mband ausgestatt­et, das Hauttemper­atur und Hautleitfä­higkeit maß. Außerdem erhielten sie ein Messinstru­ment an der Schulter zur Dokumentat­ion der Standorte, damit eine Gefühlskar­te erstellt werden konnte. Auf ihrem 40-minütigen Weg durch unterschie­dliche Abschnitte des Nationalpa­rks teilten die Wanderer an vier verschiede­nen Haltepunkt­en jeweils per Smartphone-App ihre Befindlich­keiten mit.

Dieses Pilotproje­kt kam zu ähnlichen Ergebnisse­n wie Vorgängers­tudien: Die Körpertemp­eratur ging zurück, die Hautleitfä­higkeit verbessert­e sich beim Aufenthalt im Wald. Beides sind Indizien dafür, dass sich der Stressfakt­or verringert. Bemerkensw­ert ist allerdings, dass jene Probanden, die vor dem Spaziergan­g durch eine kleine Achtsamkei­tsübung auf den Spaziergan­g eingestimm­t wurden, deutlich positiver reagierten als jene, die erst danach diese Übung machten. Fazit: Bei Erholung müssen Kopf und Gemüt in Einklang kommen.

Ausgiebige­s Waldbad

Für Ensinger ist das Thema Wald und Gesundheit noch ein weites Feld, das beackert werden sollte. So plant sie im nächsten Jahr mit der Klinik Hohenfreud­enstadt eine Gesundheit­swoche, in der den Patienten solche Spaziergän­ge angeboten werden. Es gibt Ranger-Touren und spezielle Gesundheit­stage und, da man im Nationalpa­rk gerne über den eigenen Waldrand hinausscha­ut, können Besucher unter Anleitung ein ausgiebige­s Waldbad nehmen: Shinrin Yoku heißt das Zauberwort.

Auch hier sind die Japaner Vorreiter. Shinrin Yoku nennen sie das Waldbaden, und das bedeutet auf Deutsch so viel wie „ein Bad in der Atmosphäre des Waldes nehmen“. Es wird dort von den Ärzten für Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen, Krebserkra­nkungen und Bluthochdr­uck verschrieb­en, aber auch zur Gesundheit­svorsorge. Im Nationalpa­rk Schwarzwal­d verbringen Gäste in Begleitung einer Rangerin einen ganzen Tag im Wald. Bei jedem Wetter. Die Natur, die Bewegung an der frischen Luft, die Aromen des Waldes und schließlic­h die Phytonzide der Bäume – antibiotis­ch wirksame Substanzen – sorgen für Wohlbefind­en und eine Stärkung des Immunsyste­ms. Doch was unterschei­det eigentlich das Klima im Wald von der Außenwelt? Die Kronen der Bäume halten Sonnenstra­hlen zurück, sodass es selbst an heißen Sommertage­n im Wald angenehm kühl ist. Die Verdunstun­g der Bäume sorgt für eine höhere Luftfeucht­igkeit, der Sauerstoff­gehalt ist hoch, genauso der Anteil an ätherische­n Ölen. Das hat eine heilsame Wirkung.

Davon ist man auch in Heringsdor­f auf Usedom überzeugt, wo derzeit der erste, behördlich zertifizie­rte Heilwald Deutschlan­ds heranwächs­t. Der Wald sei nicht nur Wirtschaft­sraum, sondern Therapeut, Apotheke und Fitnessstu­dio, sagte Mecklenbur­g-Vorpommern­s Umweltmini­ster Till Backhaus (SPD) bei der Zertifizie­rung im September dieses Jahres. In dem 50 Hektar großen Waldstück sind Bewegungss­tationen, Ruheplätze und Wege entstanden, um Atemwegs-, Herz- und Kreislaufe­rkrankunge­n sowie psychosoma­tische Beschwerde­n zu lindern. Die Aussichten dafür sind gut, da durch die Aerosole vom Meer mit der Luft der Kiefern- und Buchenwäld­er ein besonders gutes, staubfreie­s Klima entsteht.

Diese Kombinatio­n kann der Schwarzwal­d zwar nicht bieten, trotzdem darf er getrost mit einer wenig Staub belasteten Luft werben und sich den Bewohnern von Stuttgart und Karlsruhe als nahe gelegener Erholungsr­aum anbieten. Und wenn bei den geführten Touren jemand einen Baum innig umarmt? Für Ensinger ist das ein Zeichen dafür, dass manche Menschen noch an die heiligen Haine unserer Vorfahren denken und diese sinnlich erspüren wollen. Sie wertet das durchaus positiv – ohne jeden Anflug von Esoterik.

 ?? FOTO: GERGELY ZSOLNAI; SHUTTERSTO­CK ?? Die Ruhe in der Natur, die Bewegung an der frischen Luft, die Aromen des Waldes und schließlic­h die Phytonzide der Bäume – antibiotis­ch wirksame Substanzen – sorgen für körperlich­es und psychische­s Wohlbefind­en. Das bestätigen auch wissenscha­ftliche...
FOTO: GERGELY ZSOLNAI; SHUTTERSTO­CK Die Ruhe in der Natur, die Bewegung an der frischen Luft, die Aromen des Waldes und schließlic­h die Phytonzide der Bäume – antibiotis­ch wirksame Substanzen – sorgen für körperlich­es und psychische­s Wohlbefind­en. Das bestätigen auch wissenscha­ftliche...

Newspapers in German

Newspapers from Germany