Heilsamer Raum für Herz und Seele
Der Wald hat vielfältige positive Wirkungen auf die Gesundheit – Er stärkt Immunsystem, Kreislauf, Lunge und Nerven
enn deine Seele krank ist, dann verbirg dich wie ein verwundetes Tier in den Wäldern: Sie werden dich heilen. Die dunklen Bäume sind stumme Freunde. Sie nehmen dich schweigend auf und sind dir gut.“Dieses Zitat stammt von dem baltischen Schriftsteller Siegfried von Vegesack, der als 29-Jähriger zusammen mit Frau und Tochter 1917 im Bayerischen Wald ein frühes Aussteigerleben führte. Karg, aber gesund, wie er selbst schrieb.
Wie wohltuend ein Waldspaziergang sein kann, hat wohl schon jeder erfahren. Besonders wenn er aus der Hektik des Alltags kommt und seine Ohren plötzlich nur noch Stille vernehmen, seine Lunge reine Luft atmet und seine Füße über weichen Untergrund wandern. Der Kopf wird frei, die Stimmung gelöst. Feinfühlige Dichter haben diese Erlebnisse in unzähligen Versen beschrieben. Mal romantisch verklärt, mal nüchtern geradeheraus wie Bertolt Brecht: „Weißt du, was ein Wald ist? Ist ein Wald etwa nur zehntausend Klafter Holz? Oder ist er eine grüne Menschenfreude?“
Der Dramatiker stellte eine Frage, nach deren Antwort heute Wissenschaftler weltweit suchen. Mit besonderem Eifer in Japan und Südkorea. Dort schickten Mediziner 43 ältere Frauen auf einen einstündigen Spaziergang durch den Wald und 19 durch die Stadt. Vor- und nachher überprüften die Ärzte Blutdruck, Lungenkapazität und Elastizität der Arterien. Bei den Waldspaziergängerinnen war der Blutdruck signifikant gesunken, die Lungenkapazität und Elastizität der Arterien hatten sich verbessert. Bei den Stadtspaziergängerinnen waren keine Veränderungen festzustellen.
Dass nach einem Waldspaziergang Blutdruck, Blutzucker, AdrenalinAusschüttung und damit der Spiegel der Stresshormone niedriger sind als nach einem Ausflug in der Stadt, das dokumentieren auch Studien japanischer Forscher mit Hunderten von Probanden. Doch damit nicht genug: Die Wissenschaftler der Nippon Medical School in Tokio wollen außerdem festgestellt haben, dass beim Aufenthalt im Wald Killerzellen aktiviert werden, die zum Beispiel Krebs bekämpfen. Verursacher dieser positiven Effekte sollen sogenannte Phytonziden sein, die von den Pflanzen gebildet werden, um Krankheitserreger und Schädlinge fernzuhalten. Bei einem Waldaufenthalt werden diese Phytonziden eingeatmet und lösen damit die heilsamen Effekte aus.
Natürlich besteht noch ein immenser Forschungsbedarf. Dennoch kann man fragen, warum die Wissenschaft in Asien auf diesem Gebiet viel weiter fortgeschritten ist als hierzulande, wo doch der Wald in Deutschland schon immer eine besondere Bedeutung innehatte? Kerstin Ensinger, promovierte Psychologin und Sachbereichsleiterin Erholung und Gesundheit im 10 000 Hektar großen Nationalpark Nordschwarzwald, führt das auf das traditionelle Medizinverständnis zurück. Forstmedizin habe in Japan und Korea eine lange Tradition, während sich hierzulande die Naturheilkunde eher auf die Wirkung von Früchten und Kräutern spezialisierte. Inzwischen gewinnt aber der Wald als heilsamer Raum immer mehr an Bedeutung. Vor allem für Berufstätige und Bewohner aus Ballungsräumen, geplagt von Stress, Reizüberflutung und Hektik.
Einfach einmal zur Ruhe kommen, gelassen einen Weg gehen und sich nur auf wenig oder gar nichts konzentrieren müssen, wie es schon Goethe im Gedicht festhielt:
Der Wald ist also eine nahezu kostenlose Gesundheitsressource? Zur Untermauerung dieser These sammelt Ensinger eifrig Daten. In diesem Jahr führte sie mit 111 Teilnehmern die Studie „Naturerlebnis Nationalpark“durch. Dazu wurden die Probanden mit einem kleinen Sensorenarmband ausgestattet, das Hauttemperatur und Hautleitfähigkeit maß. Außerdem erhielten sie ein Messinstrument an der Schulter zur Dokumentation der Standorte, damit eine Gefühlskarte erstellt werden konnte. Auf ihrem 40-minütigen Weg durch unterschiedliche Abschnitte des Nationalparks teilten die Wanderer an vier verschiedenen Haltepunkten jeweils per Smartphone-App ihre Befindlichkeiten mit.
Dieses Pilotprojekt kam zu ähnlichen Ergebnissen wie Vorgängerstudien: Die Körpertemperatur ging zurück, die Hautleitfähigkeit verbesserte sich beim Aufenthalt im Wald. Beides sind Indizien dafür, dass sich der Stressfaktor verringert. Bemerkenswert ist allerdings, dass jene Probanden, die vor dem Spaziergang durch eine kleine Achtsamkeitsübung auf den Spaziergang eingestimmt wurden, deutlich positiver reagierten als jene, die erst danach diese Übung machten. Fazit: Bei Erholung müssen Kopf und Gemüt in Einklang kommen.
Ausgiebiges Waldbad
Für Ensinger ist das Thema Wald und Gesundheit noch ein weites Feld, das beackert werden sollte. So plant sie im nächsten Jahr mit der Klinik Hohenfreudenstadt eine Gesundheitswoche, in der den Patienten solche Spaziergänge angeboten werden. Es gibt Ranger-Touren und spezielle Gesundheitstage und, da man im Nationalpark gerne über den eigenen Waldrand hinausschaut, können Besucher unter Anleitung ein ausgiebiges Waldbad nehmen: Shinrin Yoku heißt das Zauberwort.
Auch hier sind die Japaner Vorreiter. Shinrin Yoku nennen sie das Waldbaden, und das bedeutet auf Deutsch so viel wie „ein Bad in der Atmosphäre des Waldes nehmen“. Es wird dort von den Ärzten für Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen, Krebserkrankungen und Bluthochdruck verschrieben, aber auch zur Gesundheitsvorsorge. Im Nationalpark Schwarzwald verbringen Gäste in Begleitung einer Rangerin einen ganzen Tag im Wald. Bei jedem Wetter. Die Natur, die Bewegung an der frischen Luft, die Aromen des Waldes und schließlich die Phytonzide der Bäume – antibiotisch wirksame Substanzen – sorgen für Wohlbefinden und eine Stärkung des Immunsystems. Doch was unterscheidet eigentlich das Klima im Wald von der Außenwelt? Die Kronen der Bäume halten Sonnenstrahlen zurück, sodass es selbst an heißen Sommertagen im Wald angenehm kühl ist. Die Verdunstung der Bäume sorgt für eine höhere Luftfeuchtigkeit, der Sauerstoffgehalt ist hoch, genauso der Anteil an ätherischen Ölen. Das hat eine heilsame Wirkung.
Davon ist man auch in Heringsdorf auf Usedom überzeugt, wo derzeit der erste, behördlich zertifizierte Heilwald Deutschlands heranwächst. Der Wald sei nicht nur Wirtschaftsraum, sondern Therapeut, Apotheke und Fitnessstudio, sagte Mecklenburg-Vorpommerns Umweltminister Till Backhaus (SPD) bei der Zertifizierung im September dieses Jahres. In dem 50 Hektar großen Waldstück sind Bewegungsstationen, Ruheplätze und Wege entstanden, um Atemwegs-, Herz- und Kreislauferkrankungen sowie psychosomatische Beschwerden zu lindern. Die Aussichten dafür sind gut, da durch die Aerosole vom Meer mit der Luft der Kiefern- und Buchenwälder ein besonders gutes, staubfreies Klima entsteht.
Diese Kombination kann der Schwarzwald zwar nicht bieten, trotzdem darf er getrost mit einer wenig Staub belasteten Luft werben und sich den Bewohnern von Stuttgart und Karlsruhe als nahe gelegener Erholungsraum anbieten. Und wenn bei den geführten Touren jemand einen Baum innig umarmt? Für Ensinger ist das ein Zeichen dafür, dass manche Menschen noch an die heiligen Haine unserer Vorfahren denken und diese sinnlich erspüren wollen. Sie wertet das durchaus positiv – ohne jeden Anflug von Esoterik.