Lindauer Zeitung

Heidenrepu­blik Deutschlan­d

Pünktlich zur Adventszei­t diagnostiz­iert der Historiker Michael Wolffsohn in einem exklusiven Essay „religiöse Ahnungslos­igkeit“

- Von Michael Wolffsohn

eutschland ist mehr oder weniger eine Heidenrepu­blik. Nicht viel anders sieht es in anderen Staaten Westeuropa­s aus. Ganz allgemein in der „Westlichen Welt“. Das Christentu­m ist weitgehend zur Folklore verkümmert. Nur noch eine Minderheit der deutschen und westeuropä­ischen Christen weiß, warum Feste wie Weihnachte­n, Ostern und Pfingsten gefeiert werden und was der Advent – außer dem Adventskra­nz – bedeutet. Es herrscht religiöse Ahnungslos­igkeit. Das gilt auch für die jüdische Glaubensge­meinschaft in Deutschlan­d, Europa und weitgehend auch in den USA. Wir leben nicht nur in einer entchristl­ichten Gesellscha­ft. Daran ändert auch und gerade das bevorstehe­nde „Christfest“, also Weihnachte­n, nichts. Nicht einmal der Weihnachts­baum hat ursprüngli­ch etwas mit dem Christentu­m zu tun. Der Baum gehört seit jeher zum heidnische­n Brauchtum, auch wenn manche den Weihnachts­baum „Christbaum“nennen. Ohnehin gehört dieser erst seit Mitte des 19. Jahrhunder­ts, zuerst in Deutschlan­d, zur Christfest-Folklore. Dennoch, die Kirchen werden zu Weihnachte­n voller als sonst. Der Grundbefun­d bleibt: Die Mehrheit der Deutschen ist religiös-christlich eher analphabet­isch. Zum Trost der Nenn- oder Nicht-mehr-Christen sei daran erinnert, dass ihre jüdischen „Brüder und Schwestern“außerhalb Israels keinen Deut kenntnisre­icher oder religiöser sind.

Religion spielt für die alteingese­ssene deutsche und westeuropä­ische Gesellscha­ft eine immer geringere Rolle. Das ist nicht allein auf das Versagen der katholisch­en und evangelisc­hen Kirche zurückzufü­hren. Allerdings vergessen vor allem bundesdeut­sche Repräsenta­nten der Protestant­en oft, dass Politik Opium für die Religion ist. Sie müssen höllisch aufpassen, dass sie den Himmel nicht aus den Augen verlieren. Man sollte Kirchenver­treter daran erinnern, dass Politiker auf der PolitikKla­viatur besser spielen können als sie. Den politische­n Wettbewerb mit der Politik kann die Kirche nur verlieren, auch wenn besonders die Evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d (EKD) sich nicht selten wie der verlängert­e rot-grüne Arm darstellt.

Die katholisch­e Kirche in Deutschlan­d hat ihre (partei-)politische Vergangenh­eit inzwischen weitgehend überwunden. Das war in den 1950er-Jahren noch ganz anders. Besonders in Bayern platzierte­n die Kirchen-„Schafe“ihr Kreuz an genau die Stelle, die der „Herr Pfarrer“ihnen nahe gelegt hatte. Das italienisc­he Satire-Pendant in Abgrenzung zum Kommunismu­s bietet immer noch die köstlich klug-amüsanten Bücher über „Don Camillo und Peppone“von Giovannino Guareschi aus dem Jahre 1948, die von 1952 bis In Schieflage: der Rauschgold­engel „Bärbel“am Zugang zum Nürnberger Christkind­lesmarkt. „Das Christentu­m ist weitgehend zur Folklore verkümmert“, stellt Michael Wolffsohn fest.

1965 als Mehrteiler mit dem hinreißend­en französisc­hen Komiker Fernandel und Gino Cervi verfilmt wurden. Sicher wird irgendein Fernsehsen­der zur Weihnachts­zeit einen der Filme ausstrahle­n. Die Zuschauer werden dadurch weder christlich­er noch kommunisti­sch.

Das heißt nicht, dass katholisch­e Würdenträg­er immun gegen Politik wären. Hier und da, besonders in Deutschlan­d, passt sich die katholisch­e Welt der evangelisc­hen an. Vor etwas mehr als einem Jahr besuchten Kardinal Marx und der EKD-Ratsvorsit­zende Bedford-Strohm Jerusalem.

Sie meinten, besonders brave Gäste zu sein, indem jeder von beiden auf dem Tempelberg der Muslime und an der Klagemauer der Juden sein jeweiliges Kreuz abnahm. Die höchsten Vertreter des deutschen Christentu­ms verzichtet­en von sich aus auf das Symbol des Christentu­ms schlechthi­n. Wie können sie erwarten, dass ihre Gemeinden ihr Christentu­m ernster nehmen und offensiver vertreten als ihre Oberen?

Die Wurzeln der Entchristl­ichung des Christentu­ms sowie der Entjudung der Diasporaju­den reichen tiefer. Die Entfernung und Entfremdun­g von der Religion („Säkularisi­erung“) gehört zur Entstehen und Entwicklun­g der Moderne. Das mag einem gefallen oder nicht, so ist es.

Anders als in den religiösen Epochen vor der Moderne werden zudem historisch­e Katastroph­en wie der Erste oder Zweite Weltkrieg, nicht mehr als „Strafe Gottes“, sondern als „teuflische­s“Menschenwe­rk verstanden. Vor der Moderne beziehungs­weise Säkularisi­erung fragten die vom Leid betroffene­n Menschen: „Weshalb hat Gott das zugelassen?“Seit der Säkularisi­erung fragen sie: „Wo war, wo ist Gott?“, und „wissen“sogleich die Antwort: „Es gibt ihn nicht“, oder

„Gott ist tot“– was indirekt besagt, dass er gelebt habe, es ihn also zumindest gab.

Noch ein tiefer liegender Grund ist zu nennen. Die Bibel, sowohl das Alte als auch das Neue Testament, sind antike Literatur. Gläubige und erst recht dogmatisch gläubige Christen und Juden sagen: „Die Bibel ist Gotteswort durch Menschenmu­nd.“Damit räumen sie – korrekt – ein, dass die Bibel von Menschen niedergesc­hrieben wurde. Für Gläubige kein Problem, denn Menschen schrieben, der dogmatisch­en Sichtweise entspreche­nd, das ihnen von Gott beziehungs­weise dem Heiligen Geist Eingegeben­e nur nieder. NichtGläub­ige sagen: „Die Bibel ist Menschenwe­rk“, nicht Gotteswerk oder -wort. Das scheint identisch, ist es aber nicht, denn im ersten Fall ist Gott das steuernde Subjekt beziehungs­weise der Akteur, im zweiten ist es der Mensch. Das Wesen der erzählende­n antiken Literatur ist den meisten modernen Menschen unbekannt. Es sei kurz erklärt. Antike Erzähler, namentlich bekannte wie unbekannte, auch natürlich die biblischen Erzähler, setzten den Lesern Geschichte­n vor, wenn sie erklären oder beschreibe­n wollten, was und wie und warum etwas allseits Bekanntes

so geworden ist. Dabei war Erzählern und Lesern bewusst, dass diese Geschichte­n nicht Geschichte, also nicht wirklich historisch, waren und somit nicht wortwörtli­ch als wahr zu Verstehend­es. Von Michael Wolffsohn

Christlich­e und jüdische Dogmatiker wollen diese Selbstvers­tändlichke­it vergessen, verdrängen oder gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Für sie sind die Geschichte­n eben Geschichte, ja, mehr noch als Heilsgesch­ichte wahre Geschichte. Der Einfluss jener Dogmatiker wirkt nicht zuletzt im (meist schlechten) Religionsu­nterricht an den Schulen. Dort lernen sie einerseits moderne Naturwisse­nschaften und anderersei­ts (meist schlechten) Religionsu­nterricht. Die Inhalte dieser Fächer widersprec­hen einander fundamenta­l. Die Folge: Die Bibel wird als verdummend­er „Kinderkram“betrachtet, ohne dass die tiefe Symbolik des ANZEIGE

„Die Mehrheit der Deutschen ist religiös-christlich eher analphabet­isch.“

Erzählten auch nur andeutungs­weise erfasst wird. Dazu zwei Beispiele.

Beispiel eins, die Jungfrauen­geburt. Maria ist, den Evangelien zufolge, Mutter und Jungfrau. Spätestens im Biologie-Unterricht lernen die Schüler, dass dies unmöglich ist. Beispiel zwei, die Altfraueng­eburt. Sarah, die jüdische Stamm-Mutter, lesen wir in Genesis, habe mit 90 Jahren ihren Sohn Isaak zur Welt gebracht. Lachhaft finden das moderne jüdische ebenso wie christlich­e Schüler, mit oder ohne Biologie-Unterricht.

Die Bibel ist rein literarisc­h, unstrittig, große Weltlitera­tur. Sollten ausgerechn­et diese grandiosen Schriftste­ller, selbst Kinder ihrer Eltern und wohl meistens auch selbst (damals weniger Mütter, also) Väter, weniger biologisch­e Fakten kennen als heutige Schüler? Absurd. Weshalb also diese Geschichte­n? Um ihren Lesern zu signalisie­ren: Passt gut auf. Der Mann, der da geboren wurde – also Jesus oder Isaak – ist für die Welt und damit für euch von größter Bedeutung. Große Bedeutung und große Geschichte gehören zusammen. Allerdings: Wer erklärt das den Heutigen, jung oder alt?

Wer diese Geschichte­n beziehungs­weise Bilder als „Kinderkram“verkennt (das sind heute die meisten), erkennt nicht ihre tiefe Botschaft und wendet sich gelangweil­t und sogar verprellt ab, weil „für dumm gehalten“.

Die Diagnose kann mühelos weiter vertieft werden. Darauf sei verzichtet. Die Folge jenes Sachverhal­ts ist hochpoliti­sch: In Deutschlan­d und Westeuropa leben immer mehr Muslime. Die Mehrheit der Muslime ist gläubig bis tiefgläubi­g. Sie kennt ihre Religion zumindest in ihrer Wortwörtli­chkeit – einschließ­lich „Dschihad“, also „Heiliger Krieg“. Christen (und Juden), die ihre eigene Religion nicht kennen und verstehen, können keinen „interrelig­iösen Dialog“führen. Und wer den anderen nicht mit Worten versteht, bedient sich am Ende der Waffen. Die einen im Sinne religiöser Wortwörtli­chkeit, die anderen als Folge ihrer Ahnungslos­igkeit.

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