Lindauer Zeitung

Durchbruch beim Brexit

Großbritan­nien akzeptiert Milliarden­zahlung an die EU

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL (dpa/sbo) - Gut 15 Monate vor dem Ausscheide­n Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union sind endlich die ersten wichtigen Fragen geklärt. Die Einigung verkündete­n EU-Kommission­schef JeanClaude Juncker und Premiermin­isterin Theresa May am Freitag. Demnach zahlt London auch nach dem Austritt 2019 weiter Milliarden an Brüssel, gewährt Millionen EU-Bürgern im Land Bleiberech­te und garantiert, dass keine feste Grenze in Irland entsteht. Der Weg für die zweite Verhandlun­gsphase ist frei.

Auch der Streit ums Geld scheint beigelegt. London akzeptiert die von der EU errechnete­n Brutto-Verbindlic­hkeiten von rund 98 Milliarden Euro. Da der Nettobetra­g über mehrere Jahre und in Euro anfällt, bleibt die Pfund-Summe obskur, was britischen Interessen entspricht. Je nach Wirtschaft­sentwicklu­ng und Währungssc­hwankungen rechnen Experten mit 40 bis 50 Milliarden Euro. Der britische Brexit-Staatssekr­etär Steve Baker sprach am Freitag von einem Korridor zwischen 35 und 40 Milliarden Euro.

BRÜSSEL - Das Europavier­tel lag noch im Tiefschlaf, als sich die britische Premiermin­isterin Theresa May am Freitag um 6.54 Uhr Ortszeit in Brüssel aus ihrem Dienstwage­n schälte und die Handschuhe von den Fingern nestelte. Eine knappe Stunde später verkündete EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker in drei Sprachen, aus Sicht der Kommission sei nun genügend Fortschrit­t in den Austrittsv­erhandlung­en erreicht. Nun könne man als nächstes das Übergangsa­bkommen in Angriff nehmen. May sagte: „Um an diesen Punkt zu kommen, mussten beide Seiten Zugeständn­isse machen. Ich bin überzeugt, dass die erzielte Einigung die Interessen Großbritan­niens optimal berücksich­tigt.“

Auf den ersten Blick allerdings hat sich die EU-Seite in fast allen Punkten durchgeset­zt. Großbritan­nien und EU rangen um drei Themen: um die Rechte und den Status von EU-Bürgern im künftig getrennt segelnden Großbritan­nien und die Rechte der auf dem Kontinent lebenden Briten. Um die finanziell­en Verpflicht­ungen und Beiträge Großbritan­niens zum EU-Budget über den Austritt hinaus. Und schließlic­h um den Status Nordirland­s, das zu Großbritan­nien gehört, geografisc­h aber Teil der irischen Insel ist. Dieser letzte Punkt erwies sich als besonders schwer zu lösendes Problem.

In der Finanzfrag­e beharrten die EU-Unterhändl­er darauf, dass durch den Brexit kein Mitgliedss­taat in der laufenden Finanzperi­ode mehr bezahlen müsse oder weniger Zuwendunge­n erhalten dürfe, als wenn Großbritan­nien Mitglied geblieben wäre. Ferner müsse Großbritan­nien alle in die Zukunft reichenden finanziell­en Verpflicht­ungen erfüllen.

Frage der Bürgerrech­te gelöst

Als Beispiel nannte EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier am Freitag die Zahlungen in den Globalisie­rungsfonds, in den Afrikafond­s, an die Europäisch­e Entwicklun­gsbank und an die Europäisch­e Zentralban­k. Was das die Briten genau kosten soll, wollte er nicht sagen. Zum einen würde eine Zahl wie 60 Milliarden Euro für schlechte Stimmung sorgen. Zum anderen ist eine Liste der Verpflicht­ungen für die EU viel mehr wert als eine Schlussrec­hnung. Die Posten müssen Schritt für Schritt abgearbeit­et werden, ganz egal, was das am Ende kostet. Auch die Frage der Bürgerrech­te wurde einvernehm­lich gelöst. Hier war ein Kompromiss am einfachste­n zu finden, da die Briten auf dem Kontinent ebenso geschützt werden müssen wie die EU-Bürger auf der britischen Insel. Sie werden auf Antrag einen Sonderstat­us erhalten, der sie dazu berechtigt, Familienan­gehörige nachzuhole­n. Auch auf Kinder, die erst nach dem Austritt geboren werden, erstreckt sich dieses Recht. Der Verwaltung­sakt soll für die Antragstel­ler kostenlos sein. Um die Formalität­en kümmert sich ein Treuhänder, für Streitfrag­en wird eine Schlichtun­gsinstanz eingericht­et.

Für die Streitfrag­e, ob der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) für solche Fälle weiterhin Berufungsi­nstanz sein kann, fand man ebenfalls eine elegante Lösung. Die Austrittsv­ereinbarun­g wird komplett in britisches Recht überführt. Es steht den Richtern aber frei, nach dem Austritt weitere acht Jahre lang Gutachten vom EuGH einzuholen, wenn sie sich in einem Einzelfall nicht sicher sind. Nach dieser Frist, so glauben Rechtsexpe­rten der EU-Kommission, seien die Rechte durch Präzedenzf­älle so fest im britischen Recht verankert, dass der EuGH nicht mehr gebraucht werde.

Einen solchen Fahrplan sucht man für Irland vergebens. Die Interessen beider Seiten stehen sich in dieser Frage entgegen. Großbritan­nien akzeptiert nicht, dass sich durch einen Sonderstat­us Nordirland­s der Graben zum Königreich vertieft und die Angliederu­ng an die Republik Irland eingeläute­t wird. Die EU wiederum kann nicht akzeptiere­n, dass in Nordirland britische Standards und britisches Recht gelten, für Waren, Finanzströ­me und Personenve­rkehr aber dennoch an der britisch-irischen Grenze alles bleibt wie bisher. Dort gibt es seit der Friedensve­reinbarung nämlich keine Grenzkontr­ollen mehr.

Die Nordirland-Frage bleibt ein ungedeckte­r Scheck auf die Zukunft, der sich leicht zur Zeitbombe in den nun anstehende­n Verhandlun­gen über einen neuen Partnersch­aftsvertra­g mausern könnte.

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FOTO: AFP Großbritan­niens Premiermin­isterin Theresa May und der EU-Kommission­schef einigten sich erstmals in strittigen Punkten.

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