Lindauer Zeitung

„Perspektiv­en für die Rückkehr der Menschen schaffen“

Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) fordert mehr deutsches Engagement im Nordirak

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RAVENSBURG - Der Wiederaufb­au der von der Terrormili­z IS befreiten Gebiete wie im Shingal-Gebirge im Nordirak muss ein Schwerpunk­t der neuen Bundesregi­erung werden: Davon ist Gerd Müller (CSU), Bundesmini­ster für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g, überzeugt, wie er im Gespräch mit Ludger Möllers ausführt.

Welche Möglichkei­ten sehen Sie für ein deutsches Engagement im Friedenspr­ozess zwischen Kurden und der Zentralreg­ierung in Bagdad? Wann rechnen Sie mit einer Normalisie­rung der Lage im Nordirak?

Der Irak darf jetzt nicht auseinande­rbrechen, die Einheit des Landes und die verfassung­smäßige Ordnung müssen gewahrt bleiben. Das Referendum der Kurden hat die Situation komplizier­ter gemacht. Die Zentralreg­ierung in Bagdad und die kurdische Regionalre­gierung in Erbil müssen sich jetzt schnellstm­öglich zusammense­tzen und verhandeln. Dazu gibt es in jüngster Zeit positive Signale – offenbar sind die Kurden bereit, die Entscheidu­ng des Obersten Bundesgeri­chts zu respektier­en, nach der die irakische Verfassung keine Abspaltung einzelner Regionen erlaubt. Das lässt zumindest hoffen, dass Bagdad und Erbil sich wieder schrittwei­se aufeinande­r zu bewegen.

In Kurdistan leben etwa 1,7 Millionen Flüchtling­e teilweise unter unwürdigen Bedingunge­n. Viele von ihnen werden noch jahrelang dort leben müssen, beispielsw­eise in den 30 Camps rund um Dohuk. Welche Hilfen plant Ihr Haus, um diese Bedingunge­n zu verbessern?

Ich habe die Region selbst mehrfach besucht und die Lage der Menschen mit eigenen Augen gesehen. Das sind viele Schicksale, die mich tief betroffen haben. Es ist klar, dass wir den Menschen helfen müssen. Wir haben in Kurdistan-Irak seit 2014 über 250 Millionen Euro in Projekte investiert, die Flüchtling­en ebenso wie den aufnehmend­en Gemeinden zugute kommen. Wir konnten so beispielsw­eise eine Million Menschen mit Trinkwasse­r versorgen und mit 30 000 kurzfristi­gen Jobs vielen Familien ein Auskommen über unser Cash for Work-Programm ermögliche­n. Wir investiere­n auch in die Gesundheit­sund Notfallver­sorgung für 300 000 Menschen. Besonders wichtig ist die Behandlung der unzähligen Traumatisi­erten, die Schlimmste­s erlebt und tiefe seelische Wunden davongetra­gen haben. Wir müssen aber auch Perspektiv­en für die Rückkehr der Menschen schaffen, die in der Region Kurdistan-Irak Zuflucht gesucht haben. Deswegen unterstütz­en wir den Wiederaufb­au der IS-befreiten Gebiete. Das muss auch ein Schwerpunk­t der neuen Bundesregi­erung werden.

Die Jesiden zählen nach eigener Rechnung den 72. Genozid an ihrer Volksgrupp­e und fordern die Unterstütz­ung der Staatengem­einschaft: Können Sie Möglichkei­ten für ein deutsches Engagement erkennen?

Ich habe in Dohuk im Nordirak mit jungen jesidische­n Frauen gesprochen, die mir unter Tränen berichtet haben, was der IS ihnen angetan hat: In ihrem Dorf wurden vierhunder­t Männer vor ihren Augen erschossen, die Frauen verschlepp­t, verkauft, vergewalti­gt. Das vergisst man nicht. Wir haben deswegen dort geholfen und tun das auch weiter und unterstütz­en alle, die vom Konflikt betroffen sind. Dazu gehören die Jesiden, aber auch andere ethnische und religiöse Gruppen, die unter Vertreibun­g und anderen schwersten Menschenre­chtsverlet­zungen gelitten haben. Neben den körperlich­en Wunden sind es vor allem die seelischen Verletzung­en, an denen die Menschen noch lange leiden; viele von ihnen ein Leben lang. Deswegen ist eine medizinisc­he und psychologi­sche Versorgung so wichtig.

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FOTO: DPA Gerd Müller (CSU)

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