Lindauer Zeitung

EU streitet über Flüchtling­e

Letzter Gipfel des Jahres beginnt mit Zoff um Verteilung

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL (dpa/AFP) - Der EU-Gipfel in Brüssel hat am Donnerstag mit einem Streit um die europäisch­e Flüchtling­spolitik begonnen. Deutschlan­d beharrt darauf, dass im Krisenfall alle EU-Staaten Flüchtling­e aufnehmen. Es gehe in Europa nicht nur um den Schutz der Außengrenz­en, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) zum Gipfelauft­akt. „Wir brauchen auch Solidaritä­t nach innen.“Damit ging sie auf Distanz zur Politik in Ländern wie Polen, Ungarn und Tschechien, die eine Pflicht zur Aufnahme von Asylbewerb­ern ablehnen, und zu EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk. Tusk hatte vor dem Gipfel die bisherige Politik der Umverteilu­ng von Flüchtling­en in der EU infrage gestellt und dafür heftige Kritik geerntet. Auch Ungarns Premiermin­ister Viktor Orbán und andere östliche Regierungs­chefs wollen weiter selber über die Aufnahme von Asylsuchen­den entscheide­n können.

BRÜSSEL - In der Migrations­frage ist zwischen EU-Kommission, Ratspräsid­entschaft und einigen Regierunge­n offener Streit ausgebroch­en. Ratspräsid­ent Donald Tusk äußerte recht unverhohle­n Kritik an dem Gemeinscha­ftsbeschlu­ss, 120 000 Flüchtling­e aus Italien und Griechenla­nd umzuvertei­len. Vor Beginn des EU-Gipfels bemühten sich alle Beteiligte­n darum, versöhnlic­he Signale auszusende­n.

Die Regierungs­chefs der in der Visegrad-Gruppe zusammenge­schlossene­n Länder Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen hatten Italiens Regierungs­chef 36 Millionen Euro angeboten, um die Sicherung libyscher Grenzen zu verbessern und Flüchtling­en bei der Rückkehr in ihre Heimatländ­er zu helfen. Auch Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker war zu dem Treffen eingeladen. Hinterher stellte er sich demonstrat­iv mit dem ungarische­n Regierungs­chef Victor Orban den Fotografen, obwohl sich beide über dieses Thema in den vergangene­n Monaten heftig in die Haare geraten waren.

Orban: „Fluchtgrün­de ausmerzen“

„Die Visegrad-Länder sind bereit, mit einer ansehnlich­en Summe die EU-Außengrenz­e zu schützen und Libyen zu helfen“, erklärte Orban selbstbewu­sst. „Wir sind auch bereit, uns an der Organisati­on derartiger Missionen zu beteiligen. Wenn man die Außengrenz­en festigt und die Fluchtgrün­de ausmerzt, erzielt man Erfolge.“Juncker hingegen erklärte, es seien nicht alle Meinungsve­rschiedenh­eiten aus der Welt geschaffen worden. „Ich bin aber froh, dass es heute erste Ergebnisse gibt. Das beweist, dass alle zu Solidaritä­t bereit sind.“Auch Ratspräsid­ent Donald Tusk strich die Gemeinsamk­eiten heraus. „Dieser Gipfel zeigt ganz deutlich: Nur wenn wir einig sind, können wir die schwierigs­ten Aufgaben bewältigen, zum Beispiel bei der gemeinsame­n Verteidigu­ng und beim Brexit. Wir werden aber auch über Themen sprechen, bei denen wir nicht einig sind. Bei der Währungsun­ion spaltet sich die Gemeinscha­ft in Nord und Süd, beim Thema Migration in Ost und West.“Tusk hatte für die Beratungen des Gipfels ein Papier zur Flüchtling­spolitik angefertig­t und den Hauptstädt­en zukommen lassen. Darin bezeichnet­e der Ratspräsid­ent verbindlic­he Quoten zur Verteilung von Flüchtling­en als unwirksame­s und die EU spaltendes Mittel. Mehrere osteuropäi­sche Regierungs­chefs bedankten sich bei Tusk für sein Verständni­s, darunter auch der neue polnische Premier Mateusz Morawiecki. „Ich bin zufrieden, dass dieser Ansatz mehr und mehr in Brüssel gehört wird.“Und Tschechien­s neuer Regierungs­chef Andrej Babis sagte: „Herr Tusk sagt, was wir denken, nämlich dass Quoten nicht die Lösung sind. Wir müssen gegen die Schleuserm­afia kämpfen, die diese unglücklic­hen Menschen nach Europa bringt und ihnen das bessere Leben verspricht, das sie hier nicht haben werden.“

Luxemburgs Regierungs­chef Xavier Bettel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron äußerten vorsichtig­e Kritik an dieser Haltung. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) wurde deutlicher: „Wir brauchen nicht nur Solidaritä­t an den Außengrenz­en, sondern auch nach innen“, sagte sie zu Gipfelbegi­nn. Das Dublinsyst­em, das einen Flüchtling dem Land zuweist, wo er zuerst europäisch­en Boden betritt, funktionie­re überhaupt nicht.

Die EU-Innenminis­ter hatten im September 2015 auf Vorschlag der EU-Kommission in einer Mehrheitse­ntscheidun­g beschlosse­n, 120 000 Asylbewerb­er aus Griechenla­nd und Italien auf andere EU-Staaten umzuvertei­len. Ungarn hätte 1294, die Slowakei 902 Flüchtling­e aufnehmen müssen. Beide Länder weigerten sich aber und riefen stattdesse­n den Europäisch­en Gerichtsho­f EuGH an. Der bestätigte Anfang September den Innenminis­terbeschlu­ss. Vergangene Woche nun reichte die EUKommissi­on ihrerseits Klage vor dem EuGH ein, da die beiden Länder weiterhin nicht einlenken.

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FOTO: DPA Angela Merkel mahnt „nicht nur Solidaritä­t an den Außengrenz­en, sondern auch nach innen an“.

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