EU streitet über Flüchtlinge
Letzter Gipfel des Jahres beginnt mit Zoff um Verteilung
BRÜSSEL (dpa/AFP) - Der EU-Gipfel in Brüssel hat am Donnerstag mit einem Streit um die europäische Flüchtlingspolitik begonnen. Deutschland beharrt darauf, dass im Krisenfall alle EU-Staaten Flüchtlinge aufnehmen. Es gehe in Europa nicht nur um den Schutz der Außengrenzen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Gipfelauftakt. „Wir brauchen auch Solidarität nach innen.“Damit ging sie auf Distanz zur Politik in Ländern wie Polen, Ungarn und Tschechien, die eine Pflicht zur Aufnahme von Asylbewerbern ablehnen, und zu EU-Ratspräsident Donald Tusk. Tusk hatte vor dem Gipfel die bisherige Politik der Umverteilung von Flüchtlingen in der EU infrage gestellt und dafür heftige Kritik geerntet. Auch Ungarns Premierminister Viktor Orbán und andere östliche Regierungschefs wollen weiter selber über die Aufnahme von Asylsuchenden entscheiden können.
BRÜSSEL - In der Migrationsfrage ist zwischen EU-Kommission, Ratspräsidentschaft und einigen Regierungen offener Streit ausgebrochen. Ratspräsident Donald Tusk äußerte recht unverhohlen Kritik an dem Gemeinschaftsbeschluss, 120 000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland umzuverteilen. Vor Beginn des EU-Gipfels bemühten sich alle Beteiligten darum, versöhnliche Signale auszusenden.
Die Regierungschefs der in der Visegrad-Gruppe zusammengeschlossenen Länder Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen hatten Italiens Regierungschef 36 Millionen Euro angeboten, um die Sicherung libyscher Grenzen zu verbessern und Flüchtlingen bei der Rückkehr in ihre Heimatländer zu helfen. Auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker war zu dem Treffen eingeladen. Hinterher stellte er sich demonstrativ mit dem ungarischen Regierungschef Victor Orban den Fotografen, obwohl sich beide über dieses Thema in den vergangenen Monaten heftig in die Haare geraten waren.
Orban: „Fluchtgründe ausmerzen“
„Die Visegrad-Länder sind bereit, mit einer ansehnlichen Summe die EU-Außengrenze zu schützen und Libyen zu helfen“, erklärte Orban selbstbewusst. „Wir sind auch bereit, uns an der Organisation derartiger Missionen zu beteiligen. Wenn man die Außengrenzen festigt und die Fluchtgründe ausmerzt, erzielt man Erfolge.“Juncker hingegen erklärte, es seien nicht alle Meinungsverschiedenheiten aus der Welt geschaffen worden. „Ich bin aber froh, dass es heute erste Ergebnisse gibt. Das beweist, dass alle zu Solidarität bereit sind.“Auch Ratspräsident Donald Tusk strich die Gemeinsamkeiten heraus. „Dieser Gipfel zeigt ganz deutlich: Nur wenn wir einig sind, können wir die schwierigsten Aufgaben bewältigen, zum Beispiel bei der gemeinsamen Verteidigung und beim Brexit. Wir werden aber auch über Themen sprechen, bei denen wir nicht einig sind. Bei der Währungsunion spaltet sich die Gemeinschaft in Nord und Süd, beim Thema Migration in Ost und West.“Tusk hatte für die Beratungen des Gipfels ein Papier zur Flüchtlingspolitik angefertigt und den Hauptstädten zukommen lassen. Darin bezeichnete der Ratspräsident verbindliche Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen als unwirksames und die EU spaltendes Mittel. Mehrere osteuropäische Regierungschefs bedankten sich bei Tusk für sein Verständnis, darunter auch der neue polnische Premier Mateusz Morawiecki. „Ich bin zufrieden, dass dieser Ansatz mehr und mehr in Brüssel gehört wird.“Und Tschechiens neuer Regierungschef Andrej Babis sagte: „Herr Tusk sagt, was wir denken, nämlich dass Quoten nicht die Lösung sind. Wir müssen gegen die Schleusermafia kämpfen, die diese unglücklichen Menschen nach Europa bringt und ihnen das bessere Leben verspricht, das sie hier nicht haben werden.“
Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron äußerten vorsichtige Kritik an dieser Haltung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde deutlicher: „Wir brauchen nicht nur Solidarität an den Außengrenzen, sondern auch nach innen“, sagte sie zu Gipfelbeginn. Das Dublinsystem, das einen Flüchtling dem Land zuweist, wo er zuerst europäischen Boden betritt, funktioniere überhaupt nicht.
Die EU-Innenminister hatten im September 2015 auf Vorschlag der EU-Kommission in einer Mehrheitsentscheidung beschlossen, 120 000 Asylbewerber aus Griechenland und Italien auf andere EU-Staaten umzuverteilen. Ungarn hätte 1294, die Slowakei 902 Flüchtlinge aufnehmen müssen. Beide Länder weigerten sich aber und riefen stattdessen den Europäischen Gerichtshof EuGH an. Der bestätigte Anfang September den Innenministerbeschluss. Vergangene Woche nun reichte die EUKommission ihrerseits Klage vor dem EuGH ein, da die beiden Länder weiterhin nicht einlenken.