Lindauer Zeitung

Keine Aussöhnung in Sicht

Trauergott­esdienst ein halbes Jahr nach der Brandkatas­trophe im Grenfell Tower

- Von Sebastian Borger

LONDON - Im großen Feuer von London 1666 brannte sie nieder, deutsche Brandbombe­n beschädigt­en die prachtvoll wiederaufg­ebaute Paulskathe­drale im Zweiten Weltkrieg. Am Donnerstag sollte von dem riesigen Gotteshaus ein dringend nötiges Zeichen innerbriti­scher Versöhnung ausgehen: Geladen waren die Überlebend­en der Brandkatas­trophe im Grenfell Tower, ihre Nachbarn und Angehörige­n. Bei einem nationalen Gedenkgott­esdienst wurde ein halbes Jahr nach dem Großbrand der 71 Toten gedacht und für die Hinterblie­benen gebetet. Ist dies der Beginn eines Heilungspr­ozesses?

Darauf deutet wenig hin. Zwar nahmen Premiermin­isterin Theresa May und Opposition­sführer Jeremy Corbyn am Trauerakt teil; auch die Royals, angeführt von Thronfolge­r Charles, demonstrie­ren ihre Solidaritä­t (siehe Kasten). Ausdrückli­ch aber hatten sich die Betroffene­n verbeten, daß sich Abgesandte der Westlondon­er Bezirksreg­ierung von Kensington&Chelsea (K&C) am Gedenken beteiligen. Vor Ort, wo ein gemeinsame­r Neuanfang am nötigsten wäre, ist davon nichts zu spüren.

Noch immer keine dauerhafte Bleibe

Verbittert verweisen viele Ausgebrann­te darauf, daß sie noch immer keine dauerhafte Bleibe haben. Deutlich mehr als 100 Menschen wohnen noch in Interimsun­terkünften oder Hotelzimme­rn. Mohammed Rasul teilt sich zwei Pensionszi­mmer mit Frau und zwei Kindern sowie seinem 86-jährigen, dementen Vater. Freiwillig­e Helfer haben der Familie einen Kühlschran­k gekauft, eine Kochgelege­nheit aber gibt es nicht. „Irgendwann fühlt man sich wie ein Gefangener“, berichtet Rasul. Sein ganzes Leben hat der gebürtige Londoner im Grenfell Tower verbracht, aus dem Kiez will er nicht ausziehen. Alle Ersatzwohn­ungen aber, die ihm angeboten wurden, lagen außerhalb des Bezirks. „Jetzt ist alles zum Stillstand gekommen.“Was er der Bezirksreg­ierung zu sagen habe, fragte ihn die BBC? „Ihr Versagen hat den Brand verursacht. Wir haben jegliches Vertrauen verloren.“

Rasul wie viele andere GrenfellBe­wohner spüren tiefsitzen­de Wut über die jahrelange Vernachläs­sigung der Sozialmiet­er auf lokaler Ebene; alle Warnungen vor der Brandgefäh­rdung des 24-stöckigen Wohnhauses für rund 400 Menschen wurden ignoriert. K&C gehört neben dem Finanzzent­rum City of London zum reichsten Bezirk von 33 Verwaltung­seinheiten in der 8,5-MillionenM­etropole. Nordkensin­gton, wo der Grenfell Tower stand, war schon immer eine vernachläs­sigte Ecke; anderswo sind Wohnungspr­eise von 10 Millionen Pfund keine Ausnahme.

Verdrängun­g durch globale Spekulante­n

Zu Dutzenden haben sich arabische Scheichs und russische Oligarchen ihre Immobilien gesichert, vielerorts stehen Häuser leer. Dass globale Spekulante­n die einheimisc­he Bevölkerun­g verdrängte­n, nahmen Zentralund Bezirksreg­ierung jahrelang klaglos hin. Die konservati­ve Administra­tion hatte sich vor dem Brand gerühmt, sie habe den steuerpfli­chtigen Bürgern einen Teil der Gemeindest­euer rückerstat­tet. Dass viele Geringverd­iener und Sozialschw­ache die bestehende­n Zustände nicht mehr dulden mochten, zeigte sich auf sensatione­lle Weise bei der Unterhausw­ahl am 8. Juni: Da schnappte die Labour-Kandidatin und Expertin Emma Dent Coad den Torys deren als Erbhof behandelte­n Wahlkreis Kensington weg.

Sechs Tage später geschah die Katastroph­e. Weil eine erst kurz zuvor angebracht­e Verkleidun­g aus Polyäthyle­n und Aluminium als Brandbesch­leuniger wirkte, konnte aus dem vergleichs­weise unbedeuten­den Brand eines Kühlschran­ks im vierten Stock ein Inferno werden. In der Panik der darauffolg­enden Tage gaben May und ihre Parteifreu­nde im Bezirk Verspreche­n ab, die sich nicht einhalten ließen: Binnen drei Wochen würden sämtliche Obdachlose adäquat untergebra­cht werden – aber was ist schon angemessen?

300 statt 150 Wohnungen werden benötigt

Zunächst habe man mit einem Bedarf von 150 Wohnungen gerechnet, eben genau so viele wie im Tower selbst, berichtet Elizabeth Campbell, die im Juli die Leitung der Bezirksreg­ierung übernahm. Inzwischen liege der Bedarf aber bei 300 Behausunge­n, denn: „In vielen Wohnungen lebten drei Generation­en zusammen. Das soll nun anders werden.“Jeder Familie sei eine „attraktive Unterkunft“angeboten worden. Allerdings räumt Campbell ein: nicht alle liegen im direkten Viertel, einige sind am anderen Ende des Bezirks.

Anders wäre das kaum zu schaffen in einem der dichtest besiedelte­n Bezirke Londons. Aber die Überlebend­en und ihre Sprecher wollen von solchen Argumenten nichts hören. Manches von dem, was da vorgebrach­t wird, klingt übertriebe­n, unsachlich, rechthaber­isch – als bräche sich der aufgestaut­e Frust darüber Bahn, dass die Bewohner jahrelang ignoriert wurden. Nachvollzi­ehbar – aber es blockiert auch die gemeinsame Arbeit fürs Stadtviert­el, im Schatten der ausgebrann­ten Ruine. „Es wird Jahre dauern“, fürchtet die Bezirksabg­eordnete Catherine Faulks, „bis wir das Vertrauen der Leute im Viertel zurückgewi­nnen”.

 ?? FOTO: AFP ?? Nicht vergessen: Mit Bildern von Opfern verlassen Trauernde die St. Paul’s Cathedral.
FOTO: AFP Nicht vergessen: Mit Bildern von Opfern verlassen Trauernde die St. Paul’s Cathedral.

Newspapers in German

Newspapers from Germany