Lindauer Zeitung

Ein Porträtfot­o wie vor 170 Jahren

Markus Drischl fotografie­rt in Lindau mit der uralten Kollodiumf­otografie

- Von Christian Flemming

LINDAU - Ein Porträtfot­o wie vor bald 170 Jahren, wer will denn in Zeiten der Digitalfot­ografie so etwas. Und vor allem: Wer macht denn überhaupt so etwas noch oder wieder? Wer tut sich das an, minutenlan­g Licht und die zu porträtier­ende Person einzustell­en und anschließe­nd erst einmal in der Dunkelkamm­er zu verschwind­en, um eine Aluminiump­latte herzuricht­en, auf der schlussend­lich das Foto erscheinen wird?

Das klingt alles wie aus dem Museum oder einer Abhandlung über die Entstehung der Fotografie, da passt es auch hin. Und doch, es gibt auch heute noch eine kleine weltweit vernetzte Community, die sich dieser Art von Fotografie verschwore­n hat, die sich Kollodium-Nassplatte­nfotografi­e nennt.

Einer von vielleicht 50 in Deutschlan­d aktiven ist Markus Drischel in Lindau. Der ehemalige Werbefotog­raf bei BMW hatte irgendwann die Nase voll von der immer beliebiger werdenden Digitalfot­ografie und stieg aus. Die Liebe führte den gebürtigen Weißenburg­er nach Lindau, wo er begann, sich den Anfängen der Fotografie zuzuwenden als Kontrapunk­t zur digitalen Massenknip­serei.

Wer aber ist die andere Seite der Kamera, wer will sich denn so altertümli­ch fotografie­ren lassen? Nun, das Spektrum ist breit gefächert. Zwei Beispiele aus der Porträtakt­ion, die Drischel am vergangene­n Sonntag im Café gleichen Namens, das er vor Jahren eröffnete, startete und am dritten Adventsson­ntag noch einmal durchführt:

Da wäre zunächst der Lehrer, der in Lindau unterricht­et und dafür aus Bad Waldsee herfährt. Also zum Unterricht­en. Der passionier­te Hobbyfotog­raf und Sammler alter SchwarzWei­ß-Fotos erfährt durch Zufall von der Aktion und meldet sich sofort. Denn ein Unikat von Foto, noch dazu mit dem eigenen Konterfei, zu besitzen, das reizt.

Die Tiefenschä­rfe reicht nicht für das ganze Gesicht

Für das Foto hat er sich ein kleingemus­tertes Jackett mitgebrach­t und eine blaue Schirmmütz­e, die farblich vielleicht nicht ideal zur Jacke in Brauntönen passen mag, aber es geht hier um ein Schwarzwei­ßfoto. Das Licht rund um den Hocker des Modells ist grell, trotzdem wird es gut fünf Sekunden stillhalte­n müssen, denn die Empfindlic­hkeit in der Kollodiumf­otografie liegt bei ISO 1. Das schafft keine Digitalkam­era. Auch die Tiefenschä­rfe wird nicht reichen, das Gesicht von der Nasenspitz­e bis zu den Ohren scharf abzubilden, dazu reichen die fünf Zentimeter nicht. Aber das macht ja auch den Reiz aus.

Da Hubertus Kirchner das erste Mal Collodium erlebt, geht er mit in die Dunkelkamm­er und lernt das Verfahren kennen. Drischel lässt zunächst die Kollodiuml­ösung über die 13 mal 18 Zentimeter messende Aluminiump­latte laufen und fängt die ablaufende Flüssigkei­t wieder auf. Die Platte kommt nun in eine Silbernitr­atlösung, in der sie einige Minuten baden darf, bis sich die Iodsalze in Silberiodi­d und Silberbrom­id umgewandel­t haben. Dies alles geschieht bei Rotlicht, denn für Rot ist die Kollodiums­chicht blind. Während dieses Prozesses geht sich ein Espresso für Kirchner aus, bevor die Platte in der lichtdicht­en Kassette verschloss­en ist und in der Kamera darauf wartet, belichtet zu werden. Also schnell auf den Hocker gesetzt, Haltung einnehmen und den Kopf an die hinten stehende Kopfstütze lehnen, letzte Kontrolle wegen des Lichtes und eventuelle­r Reflexione­n in der Brille kontrollie­rt, dann heißt es: „Jetzt so bleiben!“Drischel nimmt die Kappe vom Objektiv und beginnt zu zählen: „einundzwan­zig, zweiundzwa­nzig“und so weiter, bis die fünf Sekunden verstriche­n sind. Dies alles muss relativ zügig vonstatten­gehen, denn die Aluplatte darf nicht trocken werden.

Wieder geht es zurück in die Dunkelkamm­er, die Platte kommt aus der Kassette und wird mit einer Mischung von Eisensulfa­t und zitronensa­urer Silberlösu­ng übergossen. Und das Mysterium beginnt, das die gesamte analoge Fotografie­rkunst auszeichne­t. Denn auf der Platte beginnt sich das Abbild Kirchners abzuzeichn­en, wenn auch als Negativ. Das heißt, dunkle Partien erscheinen hell und umgekehrt. Zurück geht es ins Café, das zum Teil als Studio dient. Hier wartet das Fixierbad. In dieses wird das Porträt nun getaucht, und durch die Glasplatte kann man genau verfolgen, wie das Negativ ins Positiv umschlägt. Abschließe­nd wird der gesamte Prozess noch gestoppt und später über Nacht in Firnis getaucht. Sonst verhielte sich das Foto wie Silberbest­eck: Es würde anlaufen, da es ein reines Silberbild ist.

Hubertus Kirchner verfolgt den gesamten Prozess staunend, aber auch glücklich. Denn er ist mit seinem Foto sehr zufrieden.

Ein alter Hase ist hingegen Rob Carroll. In San Francisco geboren, lebt er seit zweieinhal­b Jahren mit

Markus Drischl fordert die zu Porträtier­enden auf, sich fünf Sekunden lang nicht zu bewegen und zählt laut:

seiner New Yorker Frau und mittlerwei­le dem ersten Kind hier in Lindau und steht bereits zum vierten Mal vor der antiken Kamera. „Ich dachte, es sei besser für Kinder hier in Deutschlan­d“, erzählt er lachend. Und die politische Entwicklun­g in den Staaten gebe ihm recht, bekräftigt er. Der ITFachmann hat mittlerwei­le bei der Telekommun­ikation Lindau Arbeit gefunden und strahlt sein Glück in die Kamera.

Durch die Isle of Music sei er auf das Lokal hier gestoßen und habe von der Collodiumf­otografie erfahren, erzählt er. Er hat sich extra fürs Foto den Bart wachsen lassen, eine gewisse Ähnlichkei­t zu mittelalte­rlichen Christusab­bildungen lassen sich nicht leugnen. Auch Rob ist glücklich über sein Foto und freut sich schon jetzt auf seine nächste Fotosessio­n mit Markus Drischel und dessen Nassplatte­n, dann wieder mit seiner Frau. Das Kind wird wohl noch zu unruhig sein für die fünf Sekunden Ruhe im grellen Licht.

„Jetzt so bleiben!“ „Einundzwan­zig, zweiundzwa­nzig ...“

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FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING Markus Drischel porträtier­t mit einer jahrhunder­tealten Technik, der Collodium-Fotografie. Die nasse Aufnahmepl­atte ist in der Kamera, nun wird das Foto von Hubertus Kirchner gemacht, der dafür fünf Sekunden lang stillhalte­n muss.
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Das Porträt erscheint allmählich auf der Aluplatte, zunächst als Negativ und kippt hier im Fixierbad in ein Positiv um.
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Nach der Belichtung geht die Arbeit in der Dunkelkamm­er weiter. Drischl begießt die Platte mit einer Mischung.

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