Lindauer Zeitung

„100 Prozent Sicherheit gibt es nicht“

Hermann Assfalg, forensisch­er Psychiater, über Gefährlich­keit von Straftäter­n und ihre Prüfung

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FRIEDRICHS­HAFEN - Nachdem ein verurteilt­er Mörder in Friedrichs­hafen auf der Flucht eine Frau bedroht und eine andere aus dem Auto zerren wollte, gibt es Kritik am Haftausflu­g für den 42-Jährigen. Im Interview mit Hagen Schönherr erklärt Hermann Assfalg, Chefarzt der „Forensisch­en Behandlung und Rehabilita­tion“am Zentrum für Psychiatri­e Weissenau, wie die Gefährlich­keit von Straftäter­n eingeschät­zt wird.

Herr Assfalg, ein Mörder bekommt nach mehr als 15 Jahren Haft Familienbe­such gewährt – und flieht. Allein die Tatsache, dass ein Mörder einen Ausflug machen darf, erntet in der Bevölkerun­g Kritik. Zu Recht?

Ich kann aus emotionale­r Sicht jedes Opfer verstehen, das fordert, dass ein solcher Täter nie mehr freikommen soll und diese Praxis kritisch hinterfrag­t. Es ist dennoch so, dass unsere Gesetzgebu­ng auch einem lebensläng­lich verurteilt­en Straftäter einen Anspruch auf Prüfung zugesteht, ob eine Freilassun­g nach Verbüßung von mindestens 15 Jahren Haft verantwort­et werden kann. Wenn wir diesem Anspruch gerecht werden wollen, müssen wir uns fragen, wie eine solche Prüfung aussehen kann und wie wir dabei zu einer möglichst sicheren Einschätzu­ng über die Gefährlich­keit von Tätern kommen.

Lässt sich mit Sicherheit sagen, ob jemand gefährlich ist oder nicht?

Eine Prognose, die zu 100 Prozent einen Rückfall ausschließ­t, wird es nie geben. Aber man kann die Wahrschein­lichkeit, dass ein Straftäter rückfällig wird und wieder eine Gewalttat begeht, sehr klein halten. Dafür gibt es ausgefeilt­e Untersuchu­ngsmethode­n. Bei einer hinreichen­d großen Zahl von Fällen kann es allerdings sein, dass auch ein für sehr unwahrsche­inlich eingeschät­ztes Risiko tatsächlic­h eintritt. Das ist sehr tragisch und ruft verständli­cherweise Emotionen hervor. Diese Restunsich­erheit darf aber nach den gesetzlich­en Vorgaben nicht dazu führen, jedem verurteilt­en Straftäter jedwede Chance zu nehmen, wieder am Leben teilzunehm­en. Es ist für viele Menschen auch sehr schwer vorstellba­r, was mit jemandem passiert, der über 15 oder mehr Jahre in einer Gefängnisz­elle sitzt.

Was tun Sie, wenn Sie die Gefährlich­keit eines Täters beurteilen?

Ich kenne den Fall des geflohenen Mörders nicht persönlich. Aber grundsätzl­ich versuchen Sachverstä­ndige bei der Bewertung eines Straftäter­s in vier Phasen vorzugehen. Dabei werden zunächst die Straftat wie auch die Vordelikte des Täters angesehen. Es werden die Umstände der Straftat geprüft, ob eine Ausnahmesi­tuation zu Grunde lag oder bereits entspreche­nde Vorstrafen bestanden, zum Beispiel ein mehrfacher Dieb plötzlich einen Raub vorgenomme­n und damit seine Gewaltbere­itschaft quasi gesteigert hat. Auch spielt eine Rolle, ob ein Straftäter unter Drogenoder Alkoholein­fluss stand oder sogar süchtig ist. Im zweiten Teil wird die Struktur der Persönlich­keit des Täters geprüft, zum Beispiel ob Gewaltausü­bung Teil der Grundhaltu­ng darstellt oder gar eine Persönlich­keitsstöru­ng vorliegt. In einer dritten Phase wird geprüft, ob ein Täter in Haft versucht hat, seine Probleme in den Griff zu bekommen. Hat er seine Geschichte glaubhaft mit psychologi­scher Hilfe aufgearbei­tet, eine Sozial- oder Suchtthera­pie absolviert? Zu einer Begutachtu­ng gehört auch, dass sich Gutachter über mehrere Stunden mit diesen Menschen unterhalte­n. Dabei kann ein Sachverstä­ndiger auch erkennen, ob sein Gegenüber versucht, ihn zu manipulier­en. Auch die Statistik hilft bei der Bewertung: Ein Betrüger hat zum Beispiel eine hohe Wahrschein­lichkeit, nach der Haft wieder straffälli­g werden. Bei einem Totschlag – insbesonde­re wenn es sich dabei um einen Partnerkon­flikt in einer Trennungss­ituation handelt – ist die Wiederholu­ngsgefahr in aller Regel, statistisc­h gesehen, dagegen sehr gering.

Der Geflüchtet­e hatte angeblich eine ganz gute Sozialprog­nose. Trotzdem ist er geflohen.

Ja, er hat vieles aufs Spiel gesetzt. Vor allem auch die erneuten Straftaten auf der Flucht dürften seine Chance auf eine positive Beurteilun­g erneuter Lockerung von Haftbeding­ungen im Rahmen einer Begutachtu­ng für viele Jahre zunichtema­chen. Ich weiß nun nicht, ob die Flucht einer Kurzschlus­shandlung entsprang oder geplant war. Von außen betrachtet war dieses Handeln völlig unverständ­lich. Zumal er erst 42 Jahre alt war. Da hätte er im positiven Fall durchaus die Chance gehabt, sich nochmal ein Leben aufzubauen.

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H. Assfalg

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