Die Kinder von Bethlehem
Nahe dem Geburtsort Jesu kommen jeden Tag mehr als zehn Babys zur Welt – In einer christlichen Klinik gebären Mütter verschiedener Herkunft und Religion
Von Sascha Montag
Umittag. Sie bringt ihre eigenen Instrumente mit: Waage, Stethoskop, Watte in einer kleinen Sporttasche. Eine Mutter mit Gesichtsschleier wickelt das Bündel in ihrem Arm aus. Hafere klopft mit den Fingern das Bäuchlein des vier Wochen alten Babys ab. „Manchmal ist ein Kind krank, aber die Mutter denkt, das sei normal,“sagt sie. Wenn es beispielsweise nicht aufwache vor Hunger.
Draußen schart sich ein Dutzend Frauen um den Van. Suad Rashaydeh, eine Frau mit verfaulten Zahnstummeln, betritt das Auto, das Jeanskleid spannt über dem kugelrunden Bauch. Neunter Monat. Die 29-Jährige hatte bereits drei Fehlgeburten, drei Kinder haben es geschafft. Zum Überleben hat die Familie fünf Schafe und ein bisschen Sozialhilfe. es diese Klinik nicht gäbe, müsste ich für den Transport zum Krankenhaus bezahlen“, sagt Rashaydeh. „Das kann ich nicht.“
Nur zur Entbindung fahren die Beduininnen mit dem Taxi durch die Geröllwüste nach Bethlehem. Achthundert Meter von Jesu Geburtsort entfernt, thront das Krankenhaus Zur Heiligen Familie wie eine Festung in der Stadt. Klosterartige Bogengänge, von Abertausenden Füßen polierte Steinböden, im Innenhof eine Kapelle zwischen Mandarinenbäumen. Vor gut 130 Jahren gründeten vinzentinische Schwestern das Krankenhaus, 1989 wandelte es der Malteserorden in eine Frauen- und Geburtsklinik um. Seither ist sie die größte und modernste der Region.
Im Warteraum vor der Entbindungsstation beugt sich eine muslimische Frau zum Mittagsgebet. Durch das Fenster blickt eine christliche Marienstatue von der Kapelle auf sie herab. Seit Jahrhunderten wird um das Heilige Land in Palästina gestritten. Für Juden, Christen und Muslime hat Bethlehem eine religiöse Bedeutung. Juden dürfen die palästinensische Stadt jedoch seit der Zweiten Intifada im Jahr 2000 nicht mehr betreten.
Mauern und Zäune trennen Israel und die palästinensischen Gebiete im Westjordanland. Deshalb ist Bethlehem ein von Christen und Muslimen beherrschter Ort. Doch der christliche Bevölkerungsanteil sinkt, kaum 20 Prozent sind es noch, immer wieder gibt es Auseinandersetzungen. Im Krankenhaus Zur Heiligen Familie scheint all das draußen zu bleiben. Christen behandeln Muslime, Muslime behandeln Christen. Nur an Haube oder Kreuzkette erkennt man den Glauben der Krankenschwestern, Hebammen und Ärztinnen.
Um Micheline al-Qassis’ Hals baumelt ein goldenes Kreuz, als sie sich über einen Inkubator beugt. Darin liegt ein drei Wochen altes Frühchen, 800 Gramm leicht. Seine Zehen sind kaum größer als Streichholz-Köpfe, die Äderchen schimmern durch die Haut. Bei jedem Atemzug bebt der kleine Körper. AlQassis ist die Chefärztin der Intensivstation für Neugeborene, der einzigen in der Region Bethlehem. Eine sterile, pastellfarbene Welt, in der Dutzende Geräte durcheinander piepen und klingeln. Zwischen Maschinen, Monitoren und Kabeln versteckt, schlummern 13 Winzlinge in ihren Kästen. Al-Qassis nimmt sich Zeit für sie. Sie scherzt, singt, streichelt und küsst. Nur die Schatten unter ihren Augen verraten, dass sie oft 24 Stunden bei „ihren Babys“bleibt, wie sie sie nennt. Vorsichtig nimmt sie den winzigen Jungen hoch, damit die Schläuche sich nicht lösen, wickelt ihn in eine Decke und reicht ihn der Mutter. Sajedh Masalmeh ist erst 19, hat selbst noch kindliche Züge. Es ist ihr erster Sohn, mehr als drei Monate kam er zu früh. „Im staatlichen Krankenhaus gilt eine Geburt in der 25. Woche als Abtreibung“, sagt alQassis. „Dort hätten sie ihm nicht helfen können.“Hier haben ihn die Ärzte trotzdem auf die Welt geholt, mit Kaiserschnitt. „Wir müssen doch versuchen, jedes Leben zu retten.“
Die meisten muslimischen Paare in Palästina wünschen sich viele Kinder, als Altersvorsorge. Zudem gelten kinderreiche Familien als besonders gesegnet. Wenn es auf natürliche Weise nicht klappt, probieren es einige mit künstlicher Befruchtung. Die kostet mindestens 2500 Dollar, deshalb lassen sich viele Frauen gleich zwei oder drei befruchtete Eizellen einpflanzen. Doch Zwillinge und Drillinge kommen häufig zu früh zur Welt, darum landen einige auf der Frühchenstation. Vor neun Jahren musste sie erweitert werden.
Mohammed Saada, 38, ein kleiner Mann mit Lachfalten und gegelten Haaren, ist von Geburt unfruchtbar. Fünfmal versuchten er und seine Frau Maly Arman, 34, in einer Spezialklinik, sie künstlich zu befruchten. Fünfmal blieb ihr Bauch flach. 12 500 Dollar. In einer anderen Klinik klappte es. Jetzt ist sie wieder schwanger, wieder ist das Kind im Reagenzglas entstanden. Stöhnend sitzt sie auf dem OP-Tisch in der Entbindungsstation. Weil sie bereits eine Gebärmutter-OP hatte, muss das Kind per Kaiserschnitt geboren werden.
Frauen ohne Krankenversicherung
Die Narkose wirkt. Ein Dutzend Hände in Gummihandschuhen hantieren über ihrem Körper, pinseln den Bauch mit Jod ein, bedecken sie mit grünen Tüchern, legen Scheren, Zangen, Skalpelle bereit. Nur ein rotes Rechteck unterhalb des Bauchnabels bleibt frei. Dr. Nathalie setzt einen sauberen Schnitt, ein anderer Arzt öffnet die Bauchdecke, greift nach dem schmierigen Köpfchen und zieht den kleinen Körper heraus. Knittrig, blutig, weiß liegt das Baby auf dem grünen Tuch. Der Arzt durchtrennt die Nabelschnur. Ein kurzes Glucksen, ein Schrei. Es ist ein Mädchen. Arman hat ein Zimmer für sich im Erdgeschoss, erste Klasse, ihr Mann arbeitet für die UN. Achtzig Prozent der Patientinnen können sich das nicht leisten. Sie liegen einen Flur weiter, in der dritten Klasse: drei Betten pro Zimmer, von Vorhängen getrennt. Bezahlen müssen sie fast nichts. Die Kosten deckt das Krankenhaus mit Spendengeldern.
Wer bedürftig ist, entscheidet Mary Moah, eine forsche Frau mit langen Locken, die immer im Stress ist. „Die meisten Palästinenser haben keine Krankenversicherung“, sagt sie, als sie durch die Gänge zu ihrem Zimmer hetzt. Während der Sprechstunden bildet sich eine lange Schlange davor. Sie hilft den Frauen nicht nur finanziell. Sie hält auch Hände, trocknet Tränen und spricht so lange mit deprimierten Schwangeren, bis sie sich auf ihr Kind freuen.
Es ist Nachmittag geworden, die Sonne neigt sich über dem Krankenhaus. Maly Arman, die junge Mutter, hat sich schlafen gelegt. Mary Moah, die Sozialarbeiterin, hat ihre Türen für heute geschlossen. Und Dr. Nathalie, die Frauenärztin, hat den OPKittel gegen Bluse und Hose getauscht. Im ersten Stock steht Micheline al-Qassis, die Kinderärztin, am Fenster der Frühchenstation und schaut auf den Innenhof. Ein Paar in Tüll und Glitzer posiert vor der Kapelle, ein beliebtes Hochzeitsmotiv. „In neun Monaten sind sie wieder hier“, sagt sie lächelnd. „Da sind sie alle gleich: Muslime, Christen, Juden.“