Wie anno ’59
Der Allgäuer Sachse Richard Freitag hat Chancen, beim Tournee-Auftakt Max Bolkart zu beerben
OBERSTDORF - Es war eine Sache von einem Punkt am 30. Dezember 1959. Einem Punkt, der Max Bolkart an Oberstdorfs Schattenberg von Albin Plank aus Hohenems trennte. Einem Punkt Vorsprung nach zwei Sprüngen vom K90-Bakken. Eine Winzigkeit zwar, aber das tat der Begeisterung der 6000 keinen Abbruch. Hatte der 27-Jährige vom heimischen Skiclub 1906 doch das Auftaktspringen der 8. Vierschanzentournee gewonnen. Bei Regen, bei Föhn – egal: Ein Oberstdorfer triumphierte in Oberstdorf! Tournee-Premiere!
Und: Tournee-Unikat. Wiederholung: keine bei den Vierschanzentourneen neun bis 65. Deutsche Oberstdorf-Sieger: ja – Allgäuer Oberstdorf-Sieger: nein. Und Oberstdorfer Oberstdorf-Sieger: schon gar nicht! Nun, bei der 66. Auflage, könnte sich das ändern: Richard Freitag, Weltcup-Führender mit drei ersten, zwei zweiten sowie je einem vierten und sechsten Platz aus den sieben bisherigen Saisonspringen, lebt seit Sommer in der Marktgemeinde. Eine Entscheidung in erster Linie aus sportlichen Beweggründen, das SichMessen-Können mit einem Andreas Wellinger, einem Markus Eisenbichler (und mittelfristig wieder einem Severin Freund) im Trainingsalltag am Stützpunkt fordert und fördert. Eine Entscheidung auch, die Wege minimiert; die südlichste Kommune Deutschlands liegt im Schanzengeflecht des Weltcup-Kalenders schlicht günstiger als Breitenbrunn, der Heimatort des 26-Jährigen unweit der Grenze zu Tschechien. WahlOberstdorfer ist Richard Freitag also.
Gewänne er zum Tourneeauftakt am Samstag vor definitiv vollbesetzten Rängen (sprich: 25 500 Zuschauern; auch für die Qualifikation am Freitag sind schon mehr als 15 000 Tickets verkauft) – Skiclub-Präsident Peter Kruijer würde es „natürlich“als „Riesenerfolg für uns in der Gemeinde“ansehen. Widerspruch würde er keinen ernten; Richard Freitag hat sich eingelebt, auch wenn er seine Herkunft nicht leugnen will/kann (und mitnichten muss): „Ich bin ein Erzgebirgler, der zurzeit im Allgäu wohnt.“Und über Weihnachten zur Familie fährt, 540 Kilometer einfach, weil dieses Daheim-Gefühl ihm wichtig ist – hilfreich zudem beim AkkuAufladen, beim Kopf-Freihalten.
Werner Schuster wird das erfreut registriert haben. Lang ist die Wettkampfpause seit Engelberg, seit Richard Freitags jüngstem, so dominanten Coup. Zwölf Tage sind viel, wenn es läuft, wenn die Automatismen greifen. „Richie“, hatte der Bundestrainer folglich vor den Feiertagen sinniert, „kann alle vier Schanzen. Aber er hat jetzt viel Zeit zum Nachdenken.“Gespannt, so Werner Schuster weiter, sei er, „wie er das meistert. Wenn er in Form ist, müssen sich alle lang machen.“Diesen Winter war Richard Freitag immer in Form. Andreas Wellinger (ein Sieg, ein zweiter, ein dritter Rang) mit geringen Abstrichen, genauso Markus Eisenbichler, genauso ... 14 deutsche Top-Ten-Platzierungen kommen zu den acht auf dem Podium. Das trägt, das pusht. Garantie ist es nicht. Werner Schuster: „Die Tournee verdichtet das Wesen unserer Disziplin auf den Kern: Man kann im Skispringen nichts erzwingen. Daran ändern auch die positiven Vorleistungen nichts.“Weiß Richard Freitag. Auch all die Tandes, Stochs, Krafts, Forfangs, Kobayashis, Fannemels hat er nicht vergessen. Konkurrenz – zu Recht ambitionierte – gibt es genug. Deshalb: „Ich lasse das einfach auf mich zukommen.“
Tat Max Bolkart anno ’59 auch. War nach Oberstdorf in GarmischPartenkirchen vorne, in Innsbruck. Wurde in Bischofshofen Fünfter. Und somit Tourneesieger. Doch das ist (noch) eine andere Geschichte.