Lindauer Zeitung

„Wir müssen erklären, warum wir etwas machen“

Bürgermeis­ter Markus Reichart über Heimenkirc­hs Politik und seinen Beitritt zu den Grünen

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HEIMENKIRC­H - Der Markt Heimenkirc­h im Landkreis Lindau sorgt häufig für Aufsehen: auffällige Warteorte, eine ganz eigene Siedlungsp­olitik und ein Bürgermeis­ter, der Streit schlichtet und den Grünen beitritt. Markus Reichart erklärt Ingrid Grohe, welche Strategien und Gedanken dahinterst­ecken.

Herr Reichart, 2008 haben Sie sich als Kandidat der Freien Wähler um das Bürgermeis­teramt in Heimenkirc­h beworben, zum 1. Januar 2018 treten Sie den Grünen bei. Seit wann fühlen Sie sich dieser Partei verbunden?

Markus Reichart: Einen Zeitpunkt zu nennen, ist schwierig, die Entscheidu­ng reift etwa seit einem Jahr. Die Grünen sind mir schon lange sympathisc­h, weil sie politische Prozesse hinterfrag­en und nicht alles hinnehmen, bloß weil es schon immer so war. Mir gefällt auch, dass sich der Gedanke der Nachhaltig­keit nicht nur auf die Umwelt bezieht, sondern auch auf Wirtschaft­sprozesse und Gesellscha­ft. Meinen Schwerpunk­t sehe ich bei einem Thema, aus dem heraus die Grünen auch entstanden sind: die Friedensbe­wegung. Deshalb ist meine Entscheidu­ng nach der Bundestags­wahl gefallen – um mich als Multiplika­tor in diesem Bereich stärker zu engagieren.

Die Ratsmitgli­eder respektier­en Ihren Schritt. Haben Sie anderswo Unverständ­nis erfahren?

Reichart: Nein. Es gab viel wohlwollen­de Rückmeldun­g. Leute sagen zu mir: Toll, dass du dich positionie­rst. Natürlich sind nicht alle erfreut. Wichtig war die Kommunikat­ion. Nachdem ich meine Entscheidu­ng dem Gemeindera­t mitgeteilt hatte, habe ich sofort alle Leute persönlich gesprochen, die das nicht aus der Zeitung erfahren sollten.

Ihr Parteieint­ritt führte zu Spekulatio­nen, Sie interessie­rten sich für andere politische Positionen als das Bürgermeis­teramt in Heimenkirc­h.

Reichart: Unter anderem war davon die Rede, ich wolle in den Landtag – da stand Thomas Gehring als Kandidat der Grünen aber längst fest. In den vergangene­n zehn Jahren gab es regelmäßig Anfragen, ob ich als Kandidat für andere politische Ämter zur Verfügung stehe. Ich bin Mitte 40, da kann ich natürlich nicht ausschließ­en, dass ich mal was anderes mache. Aber aktuell habe ich keine Pläne, mich beruflich zu verändern. Ich sehe in meiner Arbeit hier eine große Sinnhaftig­keit, zum Beispiel bei den Projekten Sonne oder Libanon. Solche Herausford­erungen machen mir Spaß. Außerdem haben wir eine gute Kollegiali­tät in der Verwaltung und in den Gremien. Letztlich wird meine Zukunft vom Bürger bestimmt: Bei den Wahlen 2020 muss ich erst mal nominiert werden, dann muss ich gewählt werden. Und vielleicht gibt es ja einen Gegenkandi­daten.

Könnte Sie Ihr Parteieint­ritt im Hinblick auf die Wahl 2020 schwächen?

Reichart: Am Anfang als Bürgermeis­ter war es mir wichtig, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, ohne einen Stempel zu haben. Nach zehn Jahren kennt man mich hier. Wenn dann doch eine Mehrheit sagen sollte „Das ist ein Grüner, wir nehmen einen anderen“, dann wäre das zu akzeptiere­n. Wenn ich im umgekehrte­n Fall, bestätigt werde, wäre das eine Stärkung. Interessan­t werden die Wahlen zum Kreis-, Bezirksund Landesauss­chuss des Bayerische­n Gemeindeta­gs, denen ich jeweils angehöre. Auch die sind 2020. Da wird sich zeigen, ob das Thema personenbe­zogen gehandhabt wird oder parteibezo­gen.

Bei Weichenste­llungen berücksich­tigt Heimenkirc­h übergeordn­ete Problemste­llungen, beispielsw­eise weltweite Fluchtbewe­gungen beim Libanon-Projekt und den bayernweit­en Flächenver­brauch bei der Ortsentwic­klung. Fürchten Sie nicht, die Bürger zu überforder­n, wenn Sie sich auf solche Zusammenhä­nge berufen?

Reichart: Nein. Der Gemeindera­t bildet ja einen Querschnit­t der Bevölkerun­g ab. Außerdem kann sich jeder einbringen: bei Bürgerwerk­stätten, in jeder Gemeindera­tssitzung beim Bürgergesp­räch, beim Markttreff. Wir als Gemeindera­t dürfen uns trauen, Entscheidu­ngen zu treffen, die die zwei nächsten Generation­en mitberücks­ichtigen. Wenn wir nicht nur sagen, was wir machen, sondern auch erklären, warum, sind wir weit davon entfernt, die Bürger zu überforder­n.

Bei der Siedlungsp­olitik geht ihr Ort einen anderen Weg als alle andere Gemeinden im Kreis.

Reichart: Wir haben noch sehr viele Vollerwerb­slandwirte. Deshalb ist Flächenerh­alt wichtig – aber nicht der einzige Grund für unsere Siedlungsp­olitik. Wir richten sie auf die Bestände im Ortskern aus. Wenn wir uns in Richtung Riedhirsch und Meckatz ausdehnen, fahren die Leute von dort nach Wangen und Lindenberg zum Einkaufen, nicht nach Heimenkirc­h. Wir wollen aber den Ort und seine Dienstleis­ter stärken: Edeka, Metzger, das Schreibwar­engeschäft, die Wirte. Unser Ziel ist barrierefr­eier Wohnraum im Ort, wo man möglicherw­eise auch ohne Auto leben kann. Hinter dieser Politik steckt eine Gesamtstra­tegie, die auch das Thema Mobilität einbezieht, also Bahnhalt, unsere Bänkle und das Carsharing. Es gibt Leute, die haben dank des Carsharing­s ihr Auto abgegeben. Außerdem: Wer geht in alte Immobilien, wenn draußen Neubaugebi­ete entstehen? Dann haben wir Leerstände.

Wie häufig mussten Sie schon bauwillige Heimenkirc­her vertrösten, weil die Gemeinde kein Bauland ausweist?

Reichart: Die Nachfragen sind nicht überborden­d. Ich habe von einer Familie gehört, die ist nach Maierhöfen gegangen. Eine andere Familie hat inzwischen in der Ortsmitte eine Bestandsim­mobilie gekauft. Dank der Städtebauf­örderung können wir solchen jungen Leuten unter die Arme greifen. Die andere Seite ist: Wir hätten Potenzial. Zwischen Riedhirsch und Meckatz haben wir 50 Baulücken in der Hand von Privatleut­en identifizi­ert, die nicht umgesetzt werden – warum auch immer. Ich führe mit allen Besitzern Gespräche und frage, ob ich Bauwillige zu ihnen schicken kann oder die Gemeinde bei der Vermarktun­g helfen soll. Für die Zukunft wollen wir verhindern, dass es Bauplätze gibt, die nicht zur Verfügung stehen. Darum weisen wir nur noch auf gemeindeei­genen Flächen Bauland aus.

Mit seinen „I-muss-nach...“-Bänkle hat Heimenkirc­h über das Westallgäu hinaus für Aufsehen gesorgt. Wann werden sie als Mobilitäts­konzept funktionie­ren?

Reichart: Die Idee funktionie­rt seit Beginn. Aber es ist ein zartes Pflänzchen, das Zeit braucht. Die Bänkle sind die Leuchttürm­e, aber es gehört mehr zum Konzept. Die Premium-Parkplätze etwa werden tatsächlic­h von Single-Fahrern freigehalt­en. Wichtig ist den Leuten die Sicherheit bei einem Mitfahrkon­zept. Das haben wir von Elternbeir­äten erfahren. Man will sich in bekannten Kreisen organisier­en. Dazu probieren derzeit einige Leute eine App aus, die passen könnte.

Was bleibt von dem Gedanken: Ich setze mich aufs Bänkle, und jemand nimmt mich mit?

Reichart: Der bleibt insofern aktuell, als wir noch in jedem Ortsteil eine Bank aufstellen wollen. Aber damit ist es nicht getan. Da kann man auch mal zwei Stunden sitzen, und keiner nimmt einen mit. Deshalb soll die App konkrete Absprachen ermögliche­n. Übrigens werden die Warteorte auch anders genutzt: In Oberhäuser dient er jungen Menschen als Treffpunkt in der Abendsonne und Langläufer­n zum Ausruhen.

Ein Großprojek­t in der Gemeinde ist das frühere Gasthaus „Sonne“. Wie weit ist die Suche nach einem Investor gediehen, der die vorgesehen­en Nutzungen mitträgt?

Reichart: Die Gespräche laufen, mit einem möglichen Partner werden sie konkreter. Es gibt noch keine Verträge, aber wir sind guter Dinge, dass wir 2019 starten können. Wir führen übrigens eine Warteliste. Menschen, die momentan in einer Einheit leben, die mehrere Leute nutzen könnten, möchten in kleinere, barrierefr­eie Wohnungen in der Sonne umziehen. Das ist unsere Zielgruppe. So wird Wohnraum frei.

Sie haben sich einer für einen Bürgermeis­ter ungewöhnli­chen Aufgabe angenommen, indem Sie Mediation als Konfliktlö­sungsstrat­egie anbieten. Gibt es bereits Anfragen?

Reichart: Ja. Die Sache entwickelt sich positiv – aber sie soll keine Hauptaufga­be sein. Ich will deutlich machen, dass es bei Konflikten Alternativ­en zum Anwalt gibt, und sehe es als gesellscha­ftliches Thema, wie man miteinande­r umgeht und ob man Energie für oder gegen etwas einsetzt. Wir werden weitere Infoverans­taltungen zu gewaltfrei­er Kommunikat­ion anbieten

Haben Sie Moderation gelernt?

Reichart: Während meines Studiums habe ich ein dreimonati­ges Praktikum am Institut für Moderation und Management absolviert. Auch bei Fortbildun­gen spielt das eine Rolle, etwa bei der Mediations-Ausbildung. Durch Gesprächsf­ührung kann man den positiven Umgang anstoßen – dann liegt es an den Betroffene­n, das umzusetzen, beispielsw­eise an den Gemeindera­tsmitglied­ern.

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FOTO: FREIE WÄHLER M. Reichart

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