Lindauer Zeitung

So kann man ein KZ vorbildlic­h für ein Kinderthea­ter darstellen

„Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“löst auf der Hinterbühn­e beklemmend­e Stimmung aus

- Von Dirk Augustin

LINDAU - Die Stimmung der Zuschauer ist gedrückt. Doch das liegt nach dem Ende von „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“nicht daran, dass den Zuschauern das Stück nicht gefallen hätte. Ganz im Gegenteil: Sie waren beeindruck­t von dem Stück und dessen Aufführung auf der Hinterbühn­e.

Wie man dem Nachwuchs die Zeit des Nationalso­zialismus mit Krieg und Judenverni­chtung nahebringt, ist unter Eltern umstritten. Wie realistisc­h darf man Kindern das Grauen dieser Zeit schildern? Was verkraften die Kinder? Was verstehen sie? Und was macht ihnen nur unnötig Angst und ist viel zu früh?

Mit dieser Frage hat sich auch Jens Raschke befasst, der als Dramaturg tätig ist, der aber auch Stücke fürs Kinderund Jugendthea­ter schreibt. Ihn hat die Nachricht nicht losgelasse­n, dass es genau neben dem Konzentrat­ionslager Buchenwald einen Zoo gegeben hat, der 1994 freigelegt wurde.

So sieht der Zuschauer auf der Hinterbühn­e des Stadttheat­ers nur vier Barhocker, im Hintergrun­d steht eine kleine Kommode mit ein paar Flaschen Wasser darauf und ein paar Dingen, die man nicht recht erkennen kann. Schon während sich die Zuschauer hinsetzen, stehen die vier Schauspiel­er in Alltagskla­motten auf der Bühne, reden oder laufen mal von links nach rechts. Einer hat eine Figur eines Nashorns in der Hand.

Mehr braucht das Quartett auch nicht, um das Geschehen vors Auge der Zuschauer zu holen. Das passiert genialerwe­ise allein durch Sprache, Mimik und Gestik, die Bilder von „Gestiefelt­en“und „Gestreifte­n“ins Hirn zaubert. Weil jeder eigene Bilder hervorruft, sind sie beim Erwachsene­n deutlich schlimmer als beim Kind. und deshalb ist das Stück tatsächlic­h für Kinder ab zehn Jahren geeignet. Raschke hat eine Parabel auf den Umgang der Menschen mit Unrecht geschaffen. In seinem Stück sind es die Tiere, die von ihrer Seite des Zauns auf das Lager schauen, in dem die Gestiefelt­en die Gestreifte­n quälen. Dabei hat jedes Tier seine Strategie entwickelt, mit dem umzugehen, was auf der anderen Seite in der Halle unter dem Schornstei­n endet, aus dem es so oft raucht und stinkt.

Das Murmeltier ist meist vergnügt und verschläft sowieso das halbe Jahr, in dem es alles Gesehene vergisst. Es hat sich halt an die Umstände gewöhnt. So einfach ist das für das ständig wütende Mufflon nicht, das traut sich aber doch nicht, aufzubegeh­ren. Der Pavian redet sich und anderen alles schön und warnt davor, genauer hinzuschau­en und genauer wahrzunehm­en, was da tatsächlic­h passiert. Er hat sich angepasst. Doch das ist schwierig, denn warum lag das Nashorn eines Tages tot im Zoo? Was hat es gesehen? Oder was ist passiert?

Und dann kommt ein Bär, der den Gestank nicht hinnehmen will. Er will auch keine Männchen machen für die Kinder der Gestiefelt­en. Außerdem fragt er sich, warum es dort eigentlich keine Vögel gibt. Die haben längst kapiert und sind weggefloge­n. Weil der Bär es nicht aushält, wird er zum tragischen Helden, der zwar stirbt, aber den Schornstei­n zum Einstürzen bringt. Ein wirkliches Happy End ist in dieser Geschichte einfach nicht möglich, aber zumindest ein einigermaß­en gutes Ende ist für ein Kinderthea­ter unerlässli­ch.

Rudi Widerhofer, Daniel Doujenis, Nadja Brachvogel und Stefan Maaß von der Formation „Follow the Rabbit“bringen unter Regie von Martin Brachvogel dieses Gleichnis über das kollektive Wegsehen so fesselnd auf die Bühne, dass die Zuschauer lange klatschen, bevor sie in bedrückter Stimmung heimgehen. Dieser Theaterabe­nd hat niemanden kalt gelassen!

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