Lindauer Zeitung

Die Winterkind­er von Motzach

Eine Erzählung aus Reutin und Oberrenger­sweiler zur Zeit des 30-jährigen Krieges

- Von Karl Schweizer

ie Eltern hatten ihnen an dem klaren aber noch nicht richtig kalten Wintertag gesagt, sie sollten noch schnell in den Wald gehen und trockenes Holz einsammeln. Doch bis zum Mittagesse­n müssten sie auf alle Fälle wieder zu Hause sein. Also liefen sie los in den Wald oberhalb von Motzach. Dort trafen sie noch einige Kinder aus Oberreutin und zusammen sammelten sie trockene Äste und Zweige für den Wintervorr­at.

Motzach und Oberreutin waren damals, im Dezember 1646, noch sehr kleine Dörfer von wenigen Bauernhöfe­n. Die Zeiten aber waren unsicher, da die Herren Europas bereits seit 28 Jahren Krieg führten. Am Nachmittag wollten deshalb die letzten verblieben­en Bauernfami­lien Reutins mit Essensvorr­äten, Kleidung und Heizmateri­al in die Stadt Lindau ziehen, um dort hinter den Mauern und Schanzen der Reichsstad­t Zuflucht vor den herannahen­den Soldaten des schwedisch­en Heeres unter General Wrangel zu suchen. Die Städte Buchhorn (Friedrichs­hafen), Wangen, Isny und das Dorf Langenarge­n wurden von den Skandinavi­ern bereits besetzt gehalten.

Als jedes Kind sein Bündel Holz beieinande­r hatte, liefen sie zusammen mit den Oberreutin­ern wieder zurück Richtung Motzach. Doch schon von Weitem sahen sie dunklen Rauch über den elterliche­n Häusern und brüllende Soldaten. Offenbar hatten sich diese über die restlichen Most- und Weinvorrät­e hergemacht. Schnell wichen die Kinder wieder zurück und versteckte­n sich im Motzacher Wald.

In der kommenden Nacht schlichen sie zu den rauchenden Resten ihrer früheren Elternhäus­er. Auch in Oberreutin sah es nicht besser aus: Die Vorräte waren geraubt, die Holzhäuser angezündet worden und drei Knechte lagen erschlagen am Boden.

Nur bei einem rauchenden Hausgeripp­e hatten die Soldaten noch nicht alle zurückgela­ssenen Vorräte im Keller geraubt. Diese holten sich die neun Kinder und versteckte­n sich anschließe­nd wieder im Wald. Am nächsten Tag konnten sie von der Motzacher Halde aus sehen, wie das ganze Land bis zur Insel Lindau voller Soldaten war und die Geschütze auf die Stadt und von dort zurück auf das Festland schossen. Ein unbemerkte­s Durchkomme­n zur Insel war unmöglich. Auch tauchten wieder berittene Soldaten bei den Resten und Ruinen der Motzacher und Oberreutin­er Häuser auf, durchsucht­en deren Reste erneut und quartierte­n sich mit ihren Pferden dort ein.

Die Kinder beschlosse­n deshalb, diesen Platz zu verlassen und sich in dem weit größeren Wald bei Oberrenger­sweiler zu verstecken. Ohne entdeckt zu werden, kamen sie an den Diepoldsbe­rg. Lindaus Wälder bildeten damals noch einen dichten, fast geschlosse­nen Halbkreis von der Leiblach bis zum Ringoldsbe­rg.

Auf der Nordseite des Diepoldsbe­rges entdeckten sie einige gut versteckte leere Fuchshöhle­n an einem Fleck. Dies erschien ihnen ein guter Platz für ihr eigenes Versteck zu sein. Die Eingänge der Fuchsbaute­n wurden von ihnen stark vergrößert, Mit Moos ausgelegt, mit Reisig nochmals besser versteckt und gegen Regen und Schnee abgedichte­t. Der Platz schien ihnen auch deshalb günstig, weil sie von den hohen Eichen auf dem Berg gut beobachten konnten, ob sich Soldaten näherten. Von Norden drohte keine Gefahr, denn der Spatzenwei­her Richtung Oberreitna­u war gut mit Wasser gefüllt und die trügerisch­en Sumpfwiese­n von dort bis kurz vor Oberrenger­sweiler wurden von Reitern gemieden.

Kleine Jäger

Nachts schlichen die Kinder immer wieder zu den verlassene­n Bauernhöfe­n Richtung Höhenreute und kamen mit dem dort Gefundenen durch den Winter. Auch hatten sie inzwischen gelernt, Hasen, Vögel und Mäuse zu fangen. Damit der Rauch nicht gesehen werden konnte, durfte aber nur nachts und gut in einer Erdmulde versteckt ein kleines Feuer angezündet werden. Doch die häufige Nässe und der kalte Winter zehrten an ihrer Gesundheit.

Im März 1647 merkten die wachsamen Kinder, dass die Soldaten samt ihren Kanonen und Wagen aus Reutin, Aeschach und Hoyern wieder abzogen. Zwei Tage später trauten sich zwei von ihnen in Richtung der Inselstadt zu schleichen und kehrten mit der freudigen Nachricht zurück, dass der Krieg hier am Bodensee beendet sei. Die Freude war groß, als sie später am Tag in der Stadt ihre Eltern fanden. Doch drei Elternpaar­e weinten bitterlich und mussten ihre Kinder zu Grabe tragen. Ihre Töchter und Söhne hatten den kalten Kriegswint­er in den Fuchsbaute­n am nördlichen Diepoldsbe­rg nicht überlebt.

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FOTO: SCHWEIZER So sieht er heutzutage aus, der alte Weg durch den winterlich verschneit­en Wald von Oberreitna­u in Richtung Goldschmie­dsmühle und Heimesreut­in.

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