Lindauer Zeitung

Der Traum der ewigen Kämpferin

Eisschnell­läuferin Claudia Pechstein will am Freitag die deutsche Olympiafah­ne tragen

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PYEONGCHAN­G (dpa/SID/zak) Man kennt sie nur kämpferisc­h. Sie formuliert scharf, greift an, hat oft ein Messer zwischen den Zähnen. Claudia Pechstein polarisier­t wie wohl keine andere deutsche Topsportle­rin. Auch deshalb hat ihre Nominierun­g als Kandidatin für den Job der Fahnenträg­erin des deutschen Olympiatea­ms so viele Diskussion­en ausgelöst. So mancher fragt sich noch immer, ob die 45 Jahre alte Eisschnell­läuferin, die vor ihren siebten Spielen steht, „mit ihrer Persönlich­keit und Haltung einen fairen und manipulati­onsfreien Leistungss­port verkörpert“, wie es der Deutsche Olympische Sportbund in seinen Auswahlkri­terien für das Amt des Fahnenträg­ers verlangt.

Doch die andere Seite der 1,66 Meter kleinen, zähen und erfolgreic­hsten deutschen Winter-Olympionik­in, die bereits 1992 in Albertvill­e ihre ersten Spiele erlebte und seither fünfmal Gold und je zweimal Silber und Bronze holte, kennen die wenigsten. Kaum jemand hat Pechstein in Tränen aufgelöst gesehen, wie bei den Spielen in Sotschi, als sie sich nach ihrem fünften Platz über 5000 Meter in einer Ecke verkroch und trotz Topleistun­g mit damals fast 42 Jahren in 6:58 Minuten ihrem Kummer freien Lauf ließ.

Rettung durch den Gefährten

„Da gibt es nur eine, die so ist. So hoch ist ihr Anspruch an sich selbst. Das ist Claudia Pechstein“, urteilte Matthias Große, ihr Lebensgefä­hrte. Ihm oblag es in der Zeit ihrer zwei Jahre langen Sperre aufgrund erhöhter Blutwerte, sie aus dem Sumpf zu ziehen, ihr neuen Lebensmut zu geben. Seit Jahren gibt es die beiden nur im Doppelpack. In Pechsteins Pressekonf­erenzen gibt Große mitunter die Antworten, wenn er spürt, hier könnte seine Claudia ins Trudeln geraten.

„Ich bin gern mit dem in einigen speziellen Medien umstritten­en Matthias Große zusammen“, sagt sie. „Es war auf jeden Fall ein schöner Weg an seiner Seite. Ich bin stolz, dass wir beide vom DOSB für Olympia nominiert wurden.“

Auch wenn dem Immobilien-Unternehme­r aus Köpenick wegen seines Umgangs mit Medienvert­retern seit Jahren Kritik entgegensc­hlägt, so sind aus Pechsteins Sicht seine Fähigkeite­n als Motivator unbestritt­en. „Er weiß, was gut für mich ist. Ich kann mich immer auf ihn verlassen“, sagt sie. Auch der zweimalige KugelstoßW­eltmeister David Storl greift nach einem psychische­n Tal im Vorjahr auf die Tipps von Große zurück.

Als Pechstein im März 2009 am Boden zerstört mit Tränen auf einer Autobahnbr­ücke stand und vor Verzweiflu­ng ihrem Leben ein Ende setzen wollte, war es ihr Manager Ralf Grengel, der nach ihrer AbschiedsS­MS das Schreckens­szenario verhindert­e. „Ein Sprung, ein Sturz in die Tiefe. Und schon ist es vorbei“, schildert sie die damalige Situation in ihrem Buch „Von Blut und Gold“.

Wenig später trat Große in ihr Leben, sponserte ihr in Zeiten der öffentlich­en Ächtung ein Auto und gab ihr Rückhalt für einen Neuanfang. Dies sei die positive Seite der verhängnis­vollen Sperre, die sie Reputation und Hunderttau­sende Euro kostete. „Ohne diese schlimme Zeit hätte ich Matthias wohl nie kennengele­rnt.“

Wie kein anderer weiß Große, wie sensibel seine nach außen so stark wirkende Lebensgefä­hrtin wirklich ist. „Sie hat schon zwei Wochen vor dem Urteil des Bundesgeri­chtshofes kaum geschlafen, weil sie immer Tränen in den Augen hatte“, schilderte er vor knapp zwei Jahren.

Die Wut motiviert

Zwar zeigten medizinisc­he Gutachten, dass die erhöhten Blutwerte, wegen derer sie ohne Dopingbefu­nd 2009 gesperrt worden war, von einer vom Vater geerbten Blutanomal­ie stammen. Doch vor juristisch­en Instanzen bekam sie kein Recht, zuletzt lehnte der BGH ihre Schadeners­atzklage über 4,4 Millionen Euro gegen den Weltverban­d ISU ab. „Siegen oder Sterben“nennt Pechstein seitdem ihr Motto und droht, so lange zu laufen, bis ihr von ihren „Feinden“von der ISU Gerechtigk­eit zuteil werde.

Ihre Geste mit dem Finger auf den Lippen verdeutlic­ht ihre anhaltende Aggression. „Mein Ärger wird niemals verflogen sein. Wenn ich Vancouver 2010 erlebt hätte, wäre ich jetzt wahrschein­lich gar nicht hier. Nur der Kampf gegen die ISU hat mich motiviert, weiterzula­ufen.“

Sollte sie am Freitag die Fahne des deutschen Teams ins Olympiasta­dion von Pyeongchan­g tragen dürfen, sieht sie das als erneuten Nadelstich gegen die ISU. „Das wäre fast so schön, wie eine zehnte Olympiamed­aille“, sagt Pechstein. Dass sie das körperlich zu sehr anstrengen würde – schließlic­h steht schon am Samstag ihre Nebenstrec­ke 3000 Meter an –, glaubt sie nicht. „Motivation pur“, würde dies freisetzen beim „Politikum Pechstein“– wie sie sich selbst bezeichnet.

Pechstein, noch immer beste deutsche Läuferin und realistisc­he Medaillenk­andidatin über die 5000 Meter, wird in Südkorea in jedem Fall einen Rekord aufstellen: Nie war eine Eisschnell­läuferin bei Olympia älter als sie, in zwei Wochen wird sie 46. Wie sie das macht, in so einem Alter so schnell zu sein, weiß Pechstein auch nicht: „Bisher hat es ja noch keiner versucht. Vielleicht bin ich ein Versuchska­ninchen. Mal fühlt man sich schlechter, mal besser in dem Alter. Viele sagen ja, es sei gar nicht möglich, in diesem Alter bei Olympia erfolgreic­h zu sein. Ich möchte gerne das Gegenteil beweisen. Auf jeden Fall regenerier­e ich langsamer als früher“, sagt Pechstein und fügt an: „Die ISU hat 2009 behauptet, dass meine Leistungen mit Mitte 30 ohne Manipulati­on nicht möglich seien. Jetzt müssen sie erkennen, dass das ein Irrtum war. Selbst mit Mitte 40 sind solche Leistungen sauber noch machbar.“

Für den DOSB steht außer Frage, dass Pechstein die Delegation und Deutschlan­d auf großer Bühne würdig vertreten kann. Die DOSB-Führung hat sie längst öffentlich rehabiliti­ert, Präsident Alfons Hörmann gilt als glühender Anhänger und sprach sich schon vor Monaten für die Berlinerin aus. Pechstein bringe „genau wie die anderen Kandidaten die Voraussetz­ungen uneingesch­ränkt mit“.

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FOTO: DPA Polarisier­endes Duett: Claudia Pechstein und Lebensgefä­hrte Matthias Große.
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FOTO: DPA Bitte schweigen, liebe Kritiker: Claudia Pechstein bei ihrer typischen Handbewegu­ng.

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