„Bayern ist kein Sonderfall“
Der Historiker Dirk Götschmann übt Kritik an der dezentralen Industrialisierung
MÜNCHEN - In Kooperation mit dem Bayerischen Bauernverband hat die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft am Donnerstag in München an das 100-jährige Bestehen des Freistaats erinnert. Die Festrede hielt Dirk Götschmann, emeritierter Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Würzburg, der sich mit der Entwicklung Bayerns vom Agrar- zum Industriestaat beschäftigt. Ralf Müller hat mit ihm gesprochen.
Ihr Thema ist „Bayern – vom Agrar- zum Industriestaat. Mythos und Wirklichkeit.“Was ist Mythos und was ist Wirklichkeit?
Mythos hat etwas mit Legendenbildung zu tun. Stimmt die Wirklichkeit mit dem überein, was über sie erzählt wird? Geschichte wird gerne benutzt, um durch bestimmte Interpretation sich selbst Vorteile zu verschaffen. Der Blick auf die Geschichte passiert selten uneigennützig. In diesem Fall nehmen bestimmte politische Kräfte für sich in Anspruch, dieses moderne Bayern, das von den meisten Menschen positiv wahrgenommen wird, geschaffen zu haben. Man stellt es so dar, als ob dieser moderne Staat das Ergebnis der letzten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wäre, was mit der Realität überhaupt nichts zu tun hat. Deshalb ist der Begriff „Mythos“angebracht.
War Bayern also schon lange vor der Regierungsübernahme durch die CSU auf dem Weg zum Industriestaat?
In Bayern stilisiert man sich gerne als etwas Einzigartiges nach dem Motto „Mir san mir“und tut so, als ob Bayern innerhalb Europas etwas ganz Herausragendes wäre. Das tut der bayerischen Seele wohl, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Die Entwicklung Bayerns zum Industriestaat beginnt wie bei allen anderen europäischen Staaten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Bayern stellt weder im europäischen noch im deutschen Rahmen einen Sonderfall dar. Dass die wirtschaftliche Entwicklung in Bayern anders verlaufen ist, versteht sich eigentlich auch von selbst. Die Industrialisierung musste überall auf den vorgefundenen Verhältnissen aufbauen. Und die waren in Bayern anders als etwa in den Rheinprovinzen. In Bayern gibt es keine Steinkohle und nur wenig Eisen. Diese beiden Stoffe sind die Basis für die erste Phase der Industrialisierung.
Hat die CSU-Wirtschaftspolitik in den mehr als 60 Jahren, in denen sie inzwischen regiert, einiges besser gemacht als dies in anderen Ländern der Fall war? Das behauptet sie ja.
Kein Mensch kann bestreiten, dass die CSU in ihrer Regierungszeit einiges richtig gemacht hat. Aber sie hat keineswegs alles richtig gemacht. Die Dinge, die nicht funktioniert haben, tauchen ja nicht auf.
Zum Beispiel?
Ein wichtiges Ziel der bayerischen Wirtschaftspolitik war schon seit den Tagen der Monarchie die dezentrale Industrialisierung. Man hat gesehen, dass die Industrialisierung woanders viele soziale Probleme mit sich gebracht hat. Das wollte man ausschalten, indem man Industrie auf dem Land ansiedelt. Diese Politik verfolgt Bayern eigentlich bis heute als Politik der gleichwertigen Lebensverhältnisse. Diese bayerische Wirtschaftspolitik, die inzwischen sogar Verfassungsrang hat, hat ungeheuer viel Geld gekostet, aber mit wenig Effekt. Das lässt sich statistisch nachweisen.
Man sollte also die Bemühungen, Gewerbe über das ganze Land zu verteilen, aufgeben?
Das sollte man wirklich tun. Ich bin nicht der Einzige, der diese Auffassung vertritt. Mit dem Geld, das man dafür ausgegeben hat, hätte man viel sinnvollere Dinge zur Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Land voranbringen können.
Alte industrielle Zentren wie in der Oberpfalz, in Oberfranken, aber auch im Raum Nürnberg haben an Bedeutung verloren und alles scheint sich im Großraum München zu konzentrieren. War das unvermeidlich?
Ich würde das schon sagen. In den Bereichen, in denen sich Bayern wirklich vom Rest der Bundesrepublik absetzt, beginnt der Aufstieg eigentlich erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Damit ist Bayern, das bis 1989 an der Peripherie lag, in das Zentrum des neuen europäischen Wirtschaftsraums gerückt worden. Erst zu diesem Zeitpunkt begann der „Endspurt“, bei dem sich Bayern von anderen abgesetzt hat. Damit ging auch eine Veränderung der Industrielandschaft einher. Bestimmte Industriezweige verloren an Bedeutung, wie zum Beispiel die keramische Industrie oder der traditionelle Maschinenbau wie er in Nürnberg zu Hause war. Diese Globalisierung, die vor dem Ersten Weltkrieg abgebrochen wurde, kam wieder in Gang und damit ändert sich die Wirtschaftsstruktur.
Mussten sich die neuen Industrien aber deshalb zwangsläufig überwiegend in München und Oberbayern ansiedeln?
Kommunikation und Verkehrsanbindungen sind wichtiger geworden. Die Menschen sind viel mobiler. Man nimmt große Pendlerströme über große Entfernungen in Kauf, was früher nicht möglich war.
Gibt es so etwas wie Initialzündungen, Schlüsselereignisse oder herausragende Einzelpersonen, welche die Wirtschaftsgeschichte Bayerns besonders beeinflusst oder ihr gar eine neue Richtung gegeben haben?
Wichtige Innovationen gibt es selbstverständlich. Aber die sind immer in länger laufende Prozesse eingebettet. Man darf Einzelereignissen nicht eine entscheidende Rolle zumessen. Diese Ereignisse sind zwar wichtig, aber sie sind selbst wieder Resultate eines längeren Prozesses. Zum Beispiel Carl von Linde. Seine Erfindung der Kältemaschine war ungeheuer wichtig. Aber Linde ist nicht vorstellbar ohne seinen Bildungshintergrund und das ist die Technische Hochschule München, die schon 1864 – vor Linde – gegründet wurde. Ohne die hätte er seine Erfindung nicht machen können. Und die TU hat wieder ihre Vorläufer. So wichtig Carl von Linde war, er steht in einer Tradition, ohne die sein Wirken gar nicht vorstellbar ist.
Kann man aus der bayerischen Wirtschaftsgeschichte der letzten 200 Jahre etwas lernen für die aktuelle Wirtschaftspolitik?
Aus der Geschichte lernen in dem Sinne, dass man Gebrauchsanleitungen herauszieht, kann man eigentlich nicht. Die Beschäftigung mit der Geschichte hat einen einzigen Zweck: dass man begreift, warum die Welt, in der wir leben, so ist wie sie ist. Das ist schon eine ganze Menge. Das ist der einzige Dienst, den wir als Historiker der Gesellschaft leisten können.