Türkei lässt Yücel nach 367 Tagen frei
Außenminister Gabriel dementiert Deal mit Ankara – Özdemir kritisiert türkische Willkür
BERLIN - Nach gut einem Jahr hat die Türkei am Freitag „Welt“-Journalist Deniz Yücel aus der Haft freigelassen. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) äußerte sich erleichtert: „Ich freue mich sehr über diese Entscheidung der türkischen Justiz. Und noch mehr freue ich mich für Deniz Yücel und seine Familie.“Yücels Anwalt Veysel Ok twitterte ein Bild des Journalisten, auf dem er seine Ehefrau Dilek Mayatürk Yücel umarmt. „Endlich!!! Endlich!!! Endlich!!! Deniz ist frei!“, hatte sie kurz zuvor bei Twitter geschrieben. Der 44-Jährige reiste noch am Abend aus der Türkei aus.
Der Fall Yücel war zuletzt der größte, aber nicht einzige Streitpunkt im Verhältnis Deutschlands zur Türkei. Der Journalist hatte sich am 14. Februar 2017 der Justiz gestellt und war dann wegen Terrorvorwürfen in Haft genommen worden – bis zum Freitag ohne Anklageschrift.
Nach Gabriels Worten wurden der Türkei für die Freilassung keine Gegenleistungen zugesagt. „Ich kann Ihnen versichern, es gibt keine Verabredungen, Gegenleistungen oder, wie manche das nennen, Deals in dem Zusammenhang“, sagte Gabriel in Berlin. Auf die Frage, ob jetzt wieder alles gut sei im Verhältnis zur Türkei, antwortete er: „Ich hab ja gerade gesagt, dass das der Anfang einer Arbeit ist und nicht das Ende.“
Cem Özdemir blickt auch nach der Freilassung Yücels skeptisch auf die deutsch-türkischen Beziehungen. Die Türkei sei ein „Willkür- und Unrechtsstaat“, sagte der frühere Grünen-Chef der „Schwäbischen Zeitung“. „Während wir hier sprechen, werden Haftstrafen verhängt und Leute werden willkürlich verhaftet“, kritisierte Özdemir. Zudem würden 150 Journalisten nach wie vor in Haft sitzen, nur weil sie ihrem Beruf nachgegangen seien.
Die aus Ulm stammende deutsche Journalistin Mesale Tolu, die im Dezember aus türkischer Haft entlassen worden war, die Türkei allerdings nicht wie Yücel verlassen darf, freute sich über die Freilassung ihres Kollegen. „Ich war sehr überrascht, aber auch sehr glücklich“, sagte Tolu dem Hessischen Rundfunk. Auch Mesale Tolus Vater reagierte erfreut. „Das ist eine gute Nachricht“, sagte Ali Riza Tolu der „Schwäbischen Zeitung“. „Aber es ist doch nicht normal, dass jemand ohne Anklageschrift über ein Jahr in Haft sitzt und dann ohne Verfahren freigelassen wird.“
MÜNCHEN - Cem Özdemir blickt auch nach der Freilassung von Deniz Yücel skeptisch auf die deutschtürkischen Beziehungen. Die Situation in der Türkei verhärte sich weiter, sagte der Grünen-Politiker im Gespräch mit Claudia Kling. Die Türkei sei ein Willkür- und Unrechtsstaat.
Wie erklären Sie die plötzliche Freilassung von Deniz Yücel?
Offensichtlich braucht die Türkei deutsche Investitionen und Touristen. Ob es darüber hinausgehend noch Komponenten eines Deals gegeben hat, werden wir wahrscheinlich irgendwann in nächster Zeit erfahren. Yücel hat seine Funktion als persönlicher Gefangener des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan erfüllt und konnte jetzt freigelassen werden. Damit ist aber auch klar: Das Gesäusel über eine angeblich freie türkische Opposition können sich türkische Politiker sparen. Die gibt es nicht. Erdogan entscheidet, wer in der Türkei verhaftet wird, wer freigelassen wird und wie die Strafe gegebenenfalls aussieht.
Was sagt der Umgang mit Yücel über die Gewaltenteilung in der Türkei?
Die gibt es nicht. Das weiß jeder in der Türkei. Yücel war eine Art Geisel Erdogans – so wie es die anderen deutschen Gefangenen auch sind und waren. Und das gilt auch für die widerrechtlich Gefangenen in der Türkei, die keinen deutschen Pass haben. Ich würde mir wünschen, dass wir heute – bei aller Freude über die Freilassung Yücels – ganz in seinem Sinne auch an die anderen 150 Journalisten denken, die in der Türkei noch im Gefängnis sitzen, nur weil sie ihrem Beruf nachgegangen sind. Man muss Erdogan bei jeder Gelegenheit daran erinnern: Journalismus ist genauso wenig ein Verbrechen wie Oppositionspolitiker, Wissenschaftler oder Vertreter der Zivilgesellschaft zu sein.
Geht von der Freilassung Yücels ein Signal der Hoffnung für die anderen Gefangenen aus?
Ich höre zurzeit oft das Wort Aufbruch bei CDU, CSU und der SPD im Zusammenhang mit der Türkei – und ich vermag nicht so richtig erkennen, woraus sich dieser Optimismus speist. Was ich wahrnehme in der Türkei – auch durch viele Kontakte – ist, dass das Gegenteil davon der Fall ist. Die Situation verhärtet sich jeden Tag. Während wir hier sprechen, werden Haftstrafen verhängt, Leute werden willkürlich verhaftet, das Verfassungsgericht ordnet Freilassungen an und die Regierung setzt sich einfach darüber hinweg. Das macht deutlich, dass die Türkei ein Willkür- und Unrechtsstaat ist.
Wie wird sich das deutsch-türkische Verhältnis entwickeln? Sehen Sie Anzeichen für eine Normalisierung?
Ich hoffe, dass die Bundesregierung nach der Freilassung von Yücel keine schmutzigen Deals macht mit der Türkei. Denn in der Türkei ist nichts normal, solange nicht diese Zehntausenden Menschen freigelassen werden, die ohne jeden Grund im Gefängnis schmoren.
Was will Erdogan mit dieser Politik erreichen?
Er setzt auf eine Doppelstrategie. Mit seinen Angriffen auf die Opposition, gegen die Kurden in der Nachbarschaft will er das Land im nationalistischen Rausch hinter sich versammeln. Gleichzeitig braucht er ausländische Investitionen und Touristen, um den Niedergang der Wirtschaft, die Inflation, die Arbeitslosigkeit und die Unzufriedenheit im Land zu stoppen. Diese Rolle ist Deutschland zugeschrieben – daher die Freilassung von Yücel. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Erdogan versucht, über Rockerbanden wie die Osmanen und über politische Vereinigungen den Schrecken nach Deutschland zu tragen. Das führt dazu, dass Oppositionelle, die die Türkei verlassen mussten, nun auch in Deutschland den langen Arm Erdogans fürchten müssen.