Hochschule erforscht intelligente Pflege
In Kempten erproben Wissenschaftler Technik, die Senioren helfen kann
MÜNCHEN - Der Fußboden schlägt bei einem Sturz Alarm. Die Toilette hat nicht nur eine Duschfunktion, sondern misst gleich noch den Blutzucker und der Schlafzimmerschrank lässt die Kleider wie in einem Mini-Paternosteraufzug rotieren. „Senioren, die bereits hier waren, sind begeistert“, sagt Alexander Karl.
Der 35-Jährige ist der Laboringenieur in der gerade eröffneten Forschungswohnung für Ambient Assisted Living (AAL) der Hochschule Kempten. Hier wird untersucht, wie technische Assistenzsysteme älteren Menschen helfen können, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu bleiben, trotz körperlicher Einschränkungen. Dazu haben die Wissenschaftler modernste Technik verbaut. Gerade mal 55 Quadratmeter groß ist die Keimzelle für Hightech in der Pflege. Doch das in Bayern einzigartige Projekt könnte Strahlkraft weit über den Freistaat hinaus haben. Denn fundierte Erkenntnisse über Produkte und die Zielgruppe sind angesichts des demografischen Wandels und des akuten Pflegekräftemangels hochgefragt – aber kaum zu bekommen. Allein in Bayern, so die Prognose, werden im Jahr 2030 bis zu 3,4 Millionen Menschen Pflege benötigen. Hilfssysteme würden einen Umzug ins Heim verzögern.
Produkte scheitern bislang
Ein Milliardengeschäft – könnte man meinen. Doch während Smart Living in den eigenen vier Wänden boomt, kommt der Markt für altersgerechte Assistenzsysteme nur schwer in Schwung. Das liege an vielen Faktoren, sagt Petra Friedrich, Professorin für Ambient Assisted Living und wissenschaftliche Leiterin des Projekts in Kempten – beispielsweise an der Finanzierung, häufig aber schlichtweg an der Alltagstauglichkeit: „Die Produkte sind zwar für Senioren gemacht, wurden aber meist nicht von ihnen getestet.“
Das soll sich jetzt ändern. Das „AAL Living Lab“, wie die Hochschule das vom Bayerischen Kultusministerium finanzierte Apartement nennt, ist in einer Seniorenanlage im Stadtteil Sankt Mang untergebracht. „Hier können die Studenten der Fakultäten Elektrotechnik sowie Soziales und Gesundheit mitten in der Zielgruppe forschen und die Senioren mit einbinden“, sagt Friedrich.
Usability-Studien sollen durchgeführt werden, Prototypen getestet, neue Ideen entwickelt und in Kooperation mit der Industrie zur Marktreife gebracht werden. Interessierte sollen sich vor Ort informieren können. Wie wichtig es ist, intelligente Pflegetechnik erlebbar zu machen, um Vorbehalte in der Bevölkerung abzubauen, hat die Politik längst erkannt. Klar ist Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) auch, dass die Umsetzung in der eigenen Wohnung meist am Geld scheitert. „Aus meiner Sicht ist eine Erweiterung des Leistungskatalogs unbedingt notwendig“, appelliert die Ministerin an die Pflegekassen. Auch ihr Haus macht Geld locker: Über die Zukunftsinitiative
„HighTech in der Pflege“, so sollen in den kommenden fünf Jahren entsprechende Projekte in allen sieben Regierungsbezirken gefördert werden. Insgesamt 35 Millionen Euro stehen dafür bereit. Mit den Hochschulen für angewandte Wissenschaften in Augsburg, Kempten, NeuUlm und der dortigen Industrie soll Schwaben unter dem Titel „Care Regio“zur Leitregion für moderne Pflege werden. Ab Herbst 2018 wird es an der neuen Uniklinik Augsburg den bundesweit ersten Lehrstuhl zu Gesundheit und Pflegeinformatik geben.