Lindauer Zeitung

Stiller Abschied aus Silivri für Deniz Yücel

Der Journalist ist frei, doch nach seiner Haftentlas­sung werden in anderen Fällen kaum Freilassun­gen folgen

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Eiskalt fegt der Wind über die Ödnis ausserhalb von Istanbul, wo das Hochsicher­heitsgefän­gnis Silivri wie eine Festung aufragt. Die Wolken hängen tief und grau über Silivri. An den Zufahrtsst­raßen, vor dem Tor und an allen Türen stehen schwerbewa­ffnete und maskierte Posten. Personal, Besucher, Anwälte und Sicherheit­spersonal bevölkern die Anlage wie eine Kleinstadt, komplett mit Verkehr, Fußgängern, Teehäusern und einer Moschee. Um 15.30 Uhr (13.30 Uhr MEZ) fährt eine schwarze Limousine mit diplomatis­chem Kennzeiche­n durch den Haupteinga­ng in das Gefängnis ein.

Der Mann, der mit der Limousine abgeholt wird, soll ohne Spektakel das riesige Gefängnisg­elände verlassen. Für den 44-jährigen Deniz Yücel, den deutsch-türkischen Türkei-Korrespond­enten der „Welt“, bringt der schwarze Wagen die Freiheit. Zehn Minuten, nachdem die Limousine durch das Gefängnist­or rollt, veröffentl­icht Yücels Anwalt Veysel Ok auf Twitter ein Foto: Yücel, in Jeans und schwarzer Jacke, umarmt seine Frau Dilek, die ihn mit einem Strauß Petersilie begrüßt: eine Erinnerung an ihren ersten gemeinsame­n Urlaub. Nur Ok und deutsche Diplomaten verfolgen das Wiedersehe­n. Einige Stunden später passiert Yücel diePasskon­trolle am Istanbuler Flughafen.

Durch den Hinterausg­ang

Vorne, wo die Journalist­en auf Yücel warten, verkündet der Opposition­sabgeordne­te Baris Yarkadas, Yücel sei durch einen Hinterausg­ang aus dem Gefängnis gebracht worden. Dass großer Rummel bei Yücels Entlassung vermieden werden soll, hängt vielleicht mit dem zusammen, was sich sonst so abspielt in Silivri an diesem Tag. In den Minuten, in denen Yücel seine Zelle verlassen und seine Frau umarmen kann, verurteilt ein im Gefängnisk­omplex tagendes Gericht mehrere prominente Journalist­en (siehe den untenstehe­nden Bericht). Gnadenlose­r könnte der Kontrast zwischen dem Fall Yücel und dem Schicksal vieler türkischer Journalist­en an diesem Tag nicht ausfallen.

Deutscher müsste man sein, kommentier­en Erdogan-Gegner auf Twitter, als sich die Nachricht von der Freilassun­g Yücels verbreitet. Dass der „Welt“-Korrespond­ent einen Tag nach den Gesprächen des türkischen Premiers Binali Yildirim mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) in Berlin freikommt, zeigt in glasklarer Offenheit, wie sehr die türkische Justiz zu einer Befehlsemp­fängerin der Führung in Ankara geworden ist, heißt es da. Schließlic­h saß Yücel ein ganzes Jahr ohne Anklagesch­rift ein. Doch in dem Moment, in dem Yildirim in Berlin von der Hoffnung auf ein baldiges Ende des Falles spricht, zaubert die Staatsanwa­ltschaft in Istanbul plötzlich eine Anklage gegen Yücel aus dem Hut. Laut der Opposition­szeitung „Cumhuriyet“wird dem Reporter unter anderem der Besitz eines Buches des angebliche­n PutschOrga­nisators Fethullah Gülen vorgeworfe­n. Zudem habe Yücel laut Telefonauf­zeichnunge­n zwischen 2014 und 2017 mit insgesamt 59 Personen gesprochen, die der kurdischen Terrorgrup­pe PKK nahestünde­n. Die Anklage fordert für Yücel bis zu 18 Jahre Haft wegen Terrorprop­aganda und Volksverhe­tzung. Es sind Standardvo­rwürfe gegen inhaftiert­e türkische Journalist­en. Doch bei Yücel ordnet der zuständige Richter sofort die Freilassun­g ohne Auflagen an. Kein Wunder, dass so manche der rund 150 türkischen Journalist­en hinter Gittern sich dieselben Berliner Schutzenge­l wünschen, wie Yücel sie hatte.

Indem sie Yücel ziehen lässt, räumt die türkische Regierung nach ihrem Verständni­s eines ihrer größten Probleme im Verhältnis zu Deutschlan­d aus dem Weg. Alle Schwierigk­eiten mit Berlin seien bereinigt, sagt Yildirim am Tag von Yücels Freilassun­g. Das ist möglicherw­eise ein wenig optimistis­ch. Merkel hatte am Donnerstag bei ihrem Treffen mit Yildirim betont, die Türkei müsse mehr tun, um die Beziehunge­n zu Europa wieder ins Lot zu bringen. Rechtsstaa­tliche Reformen sind ein wichtiger Bestandtei­l der deutschen und europäisch­en Forderunge­n. Doch gerade der Fall Yücel zeigt, wie sehr der türkische Rechtsstaa­t zerschlage­n worden ist. Zudem könnte die wohl von oben angeordnet­e Flexibilit­ät der türkischen Justiz für Yildirim und Erdogan einen innenpolit­ischen Preis haben. In türkischen Internetfo­ren läuft am Freitag als Dauerschle­ife eine Szene aus einem Interview Erdogans von 2017: Und wenn sich die Deutschen auf den Kopf stellen, Yücel kommt nicht frei, sagt der Präsident da. „In meiner Amtszeit auf keinen Fall“, sagt Erdogan und nennt den Reporter einen „Terroriste­n“und „Agenten“. Es gebe genügend Beweise gegen ihn. Doch nun wird Yücel doch freigelass­en.

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FOTO: DPA Deniz Yücel und seine Frau Dilek nach der Freilassun­g des 44-Jährigen aus dem Gefängnis.

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