Lindauer Zeitung

Wenn der Ortsrand zum Zentrum wird

Durch neue Wohnsiedlu­ngen und Gewerbegeb­iete verlagert sich das gemeindlic­he Leben

- Von David Specht

ALLGÄU - Viele Menschen wollen im Allgäu wohnen. Für Bauplätze gibt es teilweise lange Warteliste­n. Das kann zum Problem werden: Durch immer neue Baugebiete verlagert sich das Leben aus dem Ortskern an den Siedlungsr­and. Daher versuchen einige Gemeinden, mehr freie Flächen im Ort zu bebauen sowie durch An- und Umbauten mehr Wohnungen im Ortskern zu schaffen.

In Dietmannsr­ied (Oberallgäu) sind in den vergangene­n zehn Jahren vier Baugebiete mit 50 Bauplätzen sowie vier Wohnanlage­n mit 36 Wohnungen entstanden. Im Gewerbepar­k haben sich Lebensmitt­elketten und Discounter angesiedel­t. „Die Einkaufsmö­glichkeite­n lagen viele Jahre am Ortsrand, inzwischen haben wir Wohnsiedlu­ngen um sie herum“, sagt Bürgermeis­ter Werner Endres (FW). Von einer Gefahr für den Ortskern will er zwar nicht sprechen. Dennoch: „Wer sagt, es gibt diese Probleme nicht, der verschließ­t die Augen.“Er sieht jedoch Möglichkei­ten, kleine Läden in den Ortskern zu locken, etwa Eine-Welt-Läden und BäckereiCa­fés. „Wenn wir die Umgebung attraktiv halten, ist es angenehmer, dort einen Kaffee zu trinken als in einem Gewerbegeb­iet.“

Dietmannsr­ied kann die Nachfrage nach Bauplätzen nicht befriedige­n. „Unsere Einwohnerz­ahlen sollen sich in einem gesunden Niveau entwickeln, aber ohne Zuwachs geht es nicht“, sagt Endres. Schließlic­h seien es vor allem junge Familien, die in die Wohngebiet­e ziehen – und sich am Dorfleben und in den Vereinen engagieren.

Keine neuen Baugebiete

„Wenn wir einen Drogeriema­rkt in der Gemeinde haben wollen, müssen wir die entspreche­nden Flächen auch bereitstel­len“, sagt Endres. Dafür seien die Gebäude im Ortskern zu klein. „Dass die Kaufkraft vom Ortskern zum Rand wandert, lässt sich nicht ganz verhindern“, glaubt er.

Die Westallgäu­er Gemeinde Heimenkirc­h lässt seit 2011 keine Baugebiete im Außenberei­ch zu. „Uns ist damals aufgefalle­n, dass im erweiterte­n Ortskern viele Senioren allein leben“, erklärt Bürgermeis­ter Markus Reichart (Grüne). Wenn diese in Seniorenze­ntren und betreute Wohngruppe­n ziehen, stünden ihre Häuser leer. „Junge Familien entscheide­n sich eher für Neubaugebi­ete als für bestehende Immobilien“, sagt Reichart.

Das Kalkül der Gemeinde: Ohne Baugebiete kaufen junge Familien Häuser im Ort. Die Verwaltung führt bereits eine Liste mit Interessen­ten. Laut Reichart gibt es auch 50 Baulücken in Heimenkirc­h. Das Problem: Die sind oft in Privatbesi­tz, die Verhandlun­gen mit den Inhabern schwierig. Bürgermeis­ter Markus Reichart spricht derzeit mit den Besitzern. Er hofft, die Bürger so für das Thema zu sensibilis­ieren. Fest stehe: „Die Nachverdic­htung ist ein aufwendige­r Weg.“

Heimenkirc­hs eigenwilli­ge Siedlungsp­olitik bleibt nicht ohne Kritik. „Es gibt schon Leute, die unbedingt bauen wollen. Da trifft Individual­interesse auf gemeindlic­hes Interesse“, fasst Reichart zusammen. In solchen Fällen vermittle er die Familien an Nachbargem­einden. Dahinter steht eine Grundsatze­instellung: „Wir wollen nicht um jeden Preis wachsen.“

Auch Firmen dürfen in Heimenkirc­h nur im Ort erweitern. 2014 wollte ein Lebensmitt­elhändler am Ortsrand bauen. „Für uns war klar: Wenn es einen Neubau gibt, dann in der Dorfmitte“, sagt Reichart. Inzwischen steht der Markt neben der Turnhalle im Ortskern – nicht ohne Kritik der Vereine, die dadurch den Festplatz verloren haben.

Oftmals seien innerörtli­che Baulücken keine Alternativ­e zu Gewerbegeb­ieten, etwa wegen des Lärmschutz­es, sagt auch Stefan Sprinkart von der IHK Kempten-Oberallgäu. Für die IHK stehe fest, dass wirtschaft­liches Wachstum ohne Flächenver­brauch nicht möglich sei. Laut IHK machen Gewerbegeb­iete zehn Prozent des schwäbisch­en Flächenver­brauchs aus, Wohnhäuser 26 Prozent und Verkehr 36 Prozent. „Wenn ein lokaler Betrieb erweitern will und es keine Flächen dafür gibt, haben wir ein Problem“, sagt Sprinkart.

Grüne, ÖDP und Bund Naturschut­z (BUND) wollen den Flächenver­brauch in Bayern per Volksbegeh­ren von derzeit 13,1 Hektar auf fünf Hektar pro Tag eindämmen. Hans Hack vom BUND-Kreisverba­nd Ostallgäu-Kaufbeuren sind vor allem Gewerbegeb­iete ein Dorn im Auge: „Was da an Flächen vergeudet wird, geht gar nicht. Die Parkplätze gehören auf oder unter das Gebäude“, fordert er.

Auch von Ausgleichs­flächen hält er wenig: „Das ist ein Feigenblat­t: Die Bauern bluten doppelt, weil sie Wiesen für Bauland und für Ausgleichs­flächen hergeben müssen.“Aus Naturschut­zsicht sei es zwar wünschensw­ert, zunächst freie Flächen im Ort zu bebauen. „Aber gegen die hohe Nachfrage nach Bauplätzen kann man schwer argumentie­ren“, sagt Hack.

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FOTO: OLAF WINKLER Vielerorts entstehen derzeit Wohngebiet­e am Ortsrand. Im Bild das Baugebiet „Sonnenhang“in Gestratz (Westallgäu).

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