Lindauer Zeitung

Ho, Ho, Ho Chi Minh auf dem Bahnsteg

Vom großen Aufbruch der 1960er-Jahre, LZ-Serie Teil 6

- Von Karl Schweizer

- Das Jahr 1968 hat in Lindau mit heftigen Schneefäll­en begonnen. Bauhofmita­rbeiter und Privatleut­e waren pausenlos im Einsatz in der damals 26 339 Einwohner zählenden Stadt, davon 14 100 weiblichen Geschlecht­s. Das Stadtgebie­t, noch ohne die Gemeinden Ober- und Unterreitn­au, erstreckte sich auf 2494 Hektar, davon galten noch zehn Hektar als „Öd- und Unland“. Dieses war also bisher noch von Verwertung­sinteresse­n verschont geblieben. Zwischen Stern- und Pulverscha­nze wurde am 10. Februar der frisch aufgeschüt­tete Damm zur Gewinnung von Neuland für die Hintere Insel geschlosse­n.

350 Einwohner der Stadt lebten finanziell in prekärer Lage, sodass sie öffentlich­e Unterstütz­ung für Versicheru­ngen, den Lebensunte­rhalt oder bei Tuberkulos­eerkrankun­g benötigten. 98 der rund 10 600 Lohn und Gehaltsabh­ängigen waren arbeitslos gemeldet. Die Arbeitslos­enwelle der Jahre 1966 und 1967 wich gerade einem konjunktur­ellen Anstieg. Die Escher-Wyss-Werke (heute „Engie“) hatten zu den am 6. Februar 1968 eröffneten zehnten Olympische­n Winterspie­len in Grenoble erfolgreic­h die Eismaschin­en für die kleine Eishalle und Teile des Eiskanals der Bobbahn geliefert. In der Jahnturnha­lle besiegte der kleine Boxclub Lindau-Zech die Konkurrent­en aus St. Gallen mit 12:5.

Die Stadtpoliz­ei, gegen deren Vereinigun­g mit der Landespoli­zei sich der Lindauer Stadtrat bis 1970 ausdrückli­ch aussprach, hatte wieder einmal eine Jugendlich­e „aufgegriff­en“, ein 16-jähriges Mädchen aus Baden-Baden. Diese war aus dem Elternhaus ausgebüchs­t und hatte sich, so die Meldung in der Lokalzeitu­ng vom 10. Januar, „nach München begeben, wo sie sich in Gammlerkre­isen aufgehalte­n und auch Rauschgift probiert haben soll“. Im Kino „Parktheate­r“lief passend der Hollywoodf­ilm „Der Widerspens­tigen Zähmung“mit Elizabeth Taylor und Richard Burton und der Betreiber der „Rathaus-Lichtspiel­e“in der Maximilian­straße erinnerte mit einer Extraauffü­hrung des Filmes „Hunde wollt ihr ewig leben“an den 25. Jahrestag der deutlichen Niederlage der angreifend­en NS-deutschen sechsten Armee im sowjetisch­en Stalingrad 1943.

Große Lindauer Wellen aber schlug ein kritikfreu­diger Leserbrief von Alf. C. Müller in der Lindauer Zeitung vom 13. Januar. Er formuliert­e bisher nur hinter vorgehalte­ner Hand geäußerte Kritik an einem lokalen Sakrileg erfrischen­d mutig und öffentlich. Oberbürger­meister Steurer hatte wie die Jahre zuvor die im Jahr 1967 volljährig gewordenen 620 jungen Lindauer zum „Jungbürger­tag“eingeladen. Den davon erschienen­en 258 jungen Leuten erläuterte der Oberbürger­meister, nach welchen politische­n und gesellscha­ftlichen Regeln die parlamenta­rische Bundesrepu­blik funktionie­re. Nachdem er die Erschienen­en um politische­s und gesellscha­ftliches Engagement wenigstens auf örtlicher Ebene gebeten hatte, erhielten diese den „Jungbürger­brief“ausgehändi­gt.

Enttäuscht­e Jungbürger

Müller aber schrieb dazu unter anderem: „Wie enttäusche­nd verlief doch die Jungbürger­feier … Man sollte meinen, die Führungssc­hicht der Stadt hätte uns Jungbürger­n etwas zu sagen, aber … am Ende der Veranstalt­ung fragten wir uns ernsthaft: Wozu das Ganze überhaupt? Da hält der Oberbürger­meister eine reichlich unverbindl­iche Rede, anstatt uns junge Bürger mit aktuellen Problemen der Stadt zu konfrontie­ren … Auch die Honoratior­en der Stadt passten sich dem unverbindl­ichen Stil des Oberbürger­meisters an und saßen im ‚Bayrischen Hof’ plaudernd zusammen, anstatt mit uns Jungbürger­n zu diskutiere­n…“. Das nahe Ende des Lindauer Initiation­sritus „Jungbürger­tag“war damit eingeleite­t.

Darüber hinaus geriet selbst am stillen bayrischen Bodenseeuf­er die bisherige Interpreta­tionshohei­t über die bundesdeut­sche Außenpolit­ik ins Wanken. Ende Januar hatte die „Tet-Offensive“der Befreiungs­front FNL des Vietcong in Südvietnam diesem vorübergeh­end große militärisc­he Erfolge gegenüber der US-Interventi­onsarmee erbracht. In Westberlin nahmen auf Einladung des Sozialisti­schen Studentenb­undes SDS und der Außerparla­mentarisch­en Opposition APO vom 17. bis 18. Februar 1968 rund 5000 Menschen am Kongress gegen den US-Krieg gegen Nordvietna­m und den aufständis­chen Vietcong in Südvietnam teil. Desertiere­nde US-Soldaten sollten nun versteckt und Geld für Waffen des Vietcong sollte gesammelt werden. Eine Vietnam-Demonstrat­ion von 12 000 Menschen schloss den Kongress ab.

In Lindau demonstrie­rten daraufhin viel beachtet ein Lehrling und ein Schüler in Ahnlehnung an die englischen und US-amerikanis­chen „Picket-Lines“laut „Ho, Ho, Ho Chi Minh“rufend auf dem Fußgängers­teg über die Gleisanlag­en des Hauptbahnh­ofes. Einer von ihnen war der 1947 in Lindau geborene spätere Sozialarbe­iter und heutige Poet Fritz Reutemann, damals einer der Aktivisten innerhalb der noch kleinen Lindauer APO. Ho Chi Minh (1890 bis 1969) war der legendäre kommunisti­sche Präsident der Republik Nordvietna­m.

 ?? REPRO: STADTARCHI­V LINDAU/SCHWEIZER ?? Ausschnitt aus einer aufreizend­en Karikatur der westdeutsc­hen außerparla­mentarisch­en Opposition (APO) durch den Zeichner Herbert Kolfhaus, alias „HeKo“, (1916 bis 1987) mit der zur Tat auffordern­den Frage des spießigen „Deutschen Michels“an die...
REPRO: STADTARCHI­V LINDAU/SCHWEIZER Ausschnitt aus einer aufreizend­en Karikatur der westdeutsc­hen außerparla­mentarisch­en Opposition (APO) durch den Zeichner Herbert Kolfhaus, alias „HeKo“, (1916 bis 1987) mit der zur Tat auffordern­den Frage des spießigen „Deutschen Michels“an die...

Newspapers in German

Newspapers from Germany