Abrupter Abschied von den eigenen vier Wänden
Wegen Brandschutzmängeln ist in Lindau ein Mietgebäude geräumt worden – Die Katastrophe im Grenfell Tower hat alle sensibilisiert
LINDAU - 32 Jahre lang ist ein ehemaliges Brauereigebäude auf der Hinteren Insel für Sylvia Alberici Heimat gewesen. Nicht, dass der kolossale, drei- bis vierstöckige Bau zwischen einem ehemaligen Bahnbetriebswerk und dem Bodensee besonders schön wäre. Alberici aber hat hier im Parterre ihre Familie gegründet, die Kinder großgezogen. „Die ganze Wohnung war einfach mein Leben“, sagt sie. Aus und vorbei. Eine Woche hat sie Zeit bekommen um auszuziehen. Alberici sagt: „Mir sind die Tränen gekommen, als ich es erfuhr.“
Die Kündigung traf nicht nur sie und ihren Mann. Weitere 44 Menschen mussten Knall auf Fall weichen. Der Grund: fehlender Brandschutz, Todesgefahr letztlich. Spätestens seit der Londoner Brandkatastrophe vom 14. Juni 2017 gibt es eine besondere Sensibilisierung in solchen Fällen. Damals war im 24 Stockwerke hohen Grenfell Tower Feuer ausgebrochen. Es griff auf die Fassadendämmung über. In Minutenschnelle brannte alles, die hinterlüftete Fassade wirkte wie ein Kamin. 71 Menschen starben.
Bereits 14 Tage später war in Wuppertal ein elfstöckiges Wohnhaus vorsichtshalber geräumt worden. Es war mit einer ähnlichen Fassadendämmung versehen. Zudem stellten Feuerwehr, Polizei und Ordnungsamt weitere Brandschutzmängel fest. In der zweiten Septemberhälfte traf es den Komplex Hannibal mit 412 Wohnungen in einem Dortmunder Stadtteil. Der Feuerwehr fiel auf, dass unter anderem vertikale Brandschotts fehlten. Auch in diesem Fall hätte es deshalb bei einem Feuer zum katastrophalen Kamineffekt kommen können. Alle Bewohner mussten den Wohnkomplex verlassen.
Mängel bei Sanierung entdeckt
Auch in Lindau war ein solcher Kamineffekt befürchtet worden. Die Mängel waren entdeckt worden, weil die städtische Wohnungsbaugesellschaft GWG als Besitzerin des rund 140 Jahre alten Gebäudes eine leerstehende Wohnung sanieren lassen wollte. Mieter logierten dort, seit die Stadt den Bau 1919 von der Inselbrauerei übernommen und umgebaut hatte. Nach Jahrzehnten wurden aber jetzt erstmals wieder Wände aufgemacht. Es stellte sich heraus, dass sie teilweise vor die ursprüngliche Bausubstanz gestellt worden waren. So entstanden Hohlräume, die teils auch als Kabelkanäle dienten. Rauch und Feuer hätten leichtes Spiel gehabt. Auch mit den auf Holzbalken verlegten Böden. Die GWG handelte rasch, provisorisch beseitigen ließen sich die Mängel nicht. So wurde die Räumung angeordnet.
Die GWG verfügt über einen Bestand von 1700 Wohnungen im Lindauer Stadtgebiet. Ihr Ruf als kommunales Unternehmen ist seriös. Anders als etwa im Fall Dortmund geht es hier nicht um gescheiterte Immobilieninvestoren oder kaputt gesparte Wohnsubstanz. Eine solch umfassende Räumung aus Brandschutzgründen ist auch ein Novum für die GWG.
Generell scheinen solche Fälle zumindest in Süddeutschland eher selten zu sein. In Bayern beschäftigt sich das Innenministerium als oberste Stelle mit Brandschutz. „In unregelmässigen Abständen erhalten wir Kenntnis von einigen, wenigen Nutzungsuntersagungen durch untere Bauaufsichtsbehörden, etwa wenn gravierende Abweichungen von genehmigten Brandschutzkonzepten vorliegen“, erklärt eine Behördensprecherin. Alexander Mayer, Geschäftsführer der Wohnbaugesellschaft GWG
So wie unweit von Lindau im bayerischen Bodenseedorf Wasserburg. Dem Pächter des gemeindeeigenen Hotelrestaurants Seekrone wurde vom Landratsamt mitgeteilt, dass der Übernachtungsbetrieb untersagt wird. Die Gemeinde hatte bereits im vergangenen Jahr die Aufforderung erhalten, den Brandschutz im Ober- und Dachgeschoss zu verbessern. Als ein Sachverständiger erklärte, dass die Beseitigung der Mängel 1,2 Millionen Euro kosten würde, verschob die Gemeinde die geforderten Maßnahmen im Hotel, weil sowieso eine grundlegende Sanierung ansteht beziehungsweise ein Neubau im Gespräch ist.
In Bayern sind die Behörden sensibilisiert, seit sich an Pfingsten 2015 ein folgenschweres Unglück ereignet hat. In Schneizlreuth, einem Ferienort im Berchtesgadener Land, hatte ein Eventmanager einen alten Bauernhof zur Übernachtung angeboten, Brandschutz war für ihn wohl kein Thema. Vermutlich wegen einer weggeworfenen Zigarette brannte der Hof im Nu lichterloh. Sechs Menschen starben, 18 wurden teils schwer verletzt. Der Eventmanager wurde wegen fahrlässiger Tötung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.
In Baden-Württemberg wiederum gab es in jüngerer Zeit zwei Brandkatastrophen. Im März 2013 kamen eine Mutter und sieben ihrer Kinder bei einem Wohnhausbrand in Backnang östlich von Stuttgart ums Leben. Womöglich war auch hier eine Zigarette die Ursache. Die rasche Ausbreitung des Brandes wurde dadurch begünstigt, dass Brandschutzmauern durchlässig waren oder gleich ganz fehlten. Wie bei dem geräumten Bau in Lindau handelte es sich um eine ehemalige, umgebaute Gewerbeeinrichtung: eine verschachtelte, 100 Jahre alte Lederwarenfabrik.
Rund drei Monate zuvor war eine Behindertenwerkstatt in TitiseeNeustadt in Flammen aufgegangen. 14 Menschen überlebten diese Katastrophe nicht. Ursache war wohl die Fehlbedienung einer Gasflasche durch eine Betreuerin. Die Frau kam ebenso ums Leben wie 13 weitere Menschen, die behindert waren. In den Medien wurde damals spekuliert, dass sie sich aus diesem Grund nicht schnell genug aus der Werkstatt retten konnten.
Jährlich 400 Tote durch Brände
Bundesweit kommen pro Jahr rund 400 Menschen durch Brände um. Vor 25 Jahren waren es noch mehr als 800 gewesen. Baden-Württembergs Landesregierung sieht sich in Sachen Brandschutz gut aufgestellt. Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut von der CDU teilte nach der Räumung in Wuppertal im Sommer mit, hierzulande gebe es keine Hinweise auf ähnlich gelagerte Fälle. In erster Linie hatte man damals ein Auge auf Hochhäuser. Die Bundesbauministerkonferenz recherchierte damals, ob es sonstwo noch Bauten wie in Wuppertal gibt.
„Aktuell sind keine nennenswerten Defizite im vorbeugenden Brandschutz bekannt“, heißt es aus Hoffmeister-Krauts Ministerium. Die bestehenden Vorschriften träfen „ausreichend Vorsorge, um entstehende Gefahren aufgrund von Bränden zu verhindern“. Jüngste nennenswerte Änderungen an den Vorschriften gab es Gerd Zimmermann, Geschäftsführer des Landesfeuerwehrverbandes Baden-Württemberg, zufolge nicht. Für die Öffentlichkeit erkennbar dürfte nur die Rauchmelderpflicht gewesen sein. 2010 war die Landesbauordnung geändert worden. Seitdem hängen die Brandschutzanforderungen weniger von der Höhe des Gebäudes ab als von =dessen Nutzung. Ein gutes Vierteljahrhundert zuvor war der zweite Rettungsweg für Wohnhäuser und Gewerbebauten verpflichtend geworden.
„Erst muss geplant werden, danach wird die Sanierung rund zwei Jahre dauern.“ „Aktuell sind keine nennenswerten Defizite im vorbeugenden Brandschutz bekannt.“
Stellungnahme aus dem Landeswirtschaftsministerium
Davon abgesehen gibt es noch eine Risikobewertung. Sie ist dehnbar, wie sich 2013 am Stuttgarter Wahrzeichen, dem 217 Meter hohen Fernsehturm, zeigte. Seit der Inbetriebnahme 1956 waren die Aussichtsplattform und das dort gelegene Restaurant beliebte Ausflugsziele. Alternativer Fluchtweg neben den Aufzügen war immer eine enge Treppe gewesen. 2011 investierte der SWR Millionen Euro in den Brandschutz. Bereits zwei Jahre später schloss die Stadt ihr Wahrzeichen. Begründung: Brandschutz nicht in Ordnung. Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn von den Grünen befürchtete, der Turm sei eine „lebensbedrohliche Falle für die Besucher“. Eine Evakuierung dauere mindestens eine Stunde. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hatte dies keine Rolle gespielt.
Bauliche Eingriffe sollten retten, was zu retten war. Weitere Fluchtwege konnten in der engen Betonnadel nicht eingebaut werden, dafür wurden die Aufzüge und Treppen sicherer gemacht. Alle Kabel erhielten flammenhemmende Umkapselungen. Eine weitere technische Umrüstung soll verhindern, dass es bei einem Brand zum gefürchteten Kamineffekt kommt. 1,8 Millionen Euro wurden dafür ausgegeben. 2016 gab die Stadt den Turm wieder für Besucher frei.
Auch in Lindau will die Wohnbaugesellschaft GWG das geräumte Gebäude sanieren. „Erst muss geplant werden, danach wird die Sanierung rund zwei Jahre dauern“, sagt Geschäftsführer Alexander Mayer. Für die gekündigten Mieter bedeutet dies wohl den definitiven Abschied aus ihren Wohnungen. Die GWG hatte gleich nach dem Brandschutzalarm nach alternativen Unterbringungsmöglichkeiten gesucht. Offenbar sind inzwischen alle Menschen versorgt.
Man werde sich jetzt eben woanders eine neue Heimat aufbauen, sagt Sylvia Alberici. Die erste Erregung über die Kündigung aus heiterem Himmel ist abgeflaut: „Wir wollen schließlich sicher wohnen.“