Luftfahrt statt Latein
Florian Stöberl unterrichtet normalerweise am Gymnasium – Derzeit arbeitet er aber bei Liebherr Aerospace
KEMPTEN/LINDENBERG - Florian Stöberl ist 45 Jahre alt und unterrichtet normalerweise Latein und Englisch am Carl-von-Linde-Gymnasium in Kempten. Für ein Jahr tauscht Stöberl nun Kreide und Rotstift gegen Mitarbeiterausweis und Stempelkarte. Er ist einer von zehn Pädagogen aus Bayern, die am bundesweit einmaligen Projekt „Lehrer in der Wirtschaft“teilnehmen. Das Projekt bietet Lehrern die Möglichkeit, sich ein Bild von der Arbeit in einem Unternehmen zu machen. Diese Erfahrung sollen sie an ihre Schüler weitergeben und so das Verhältnis zwischen Schule und Wirtschaft verbessern.
Seit September arbeitet der Wildpoldsrieder bei Liebherr Aerospace in Lindenberg (Westallgäu). Florian Stöberl ist in der Abteilung für Qualitätsmanagement tätig. Er wird im Team für kontinuierliche Verbesserung eingesetzt und arbeitet bei internen Optimierungsprojekten mit. „Ein tiefes Fachwissen steht dort nicht im Vordergrund“, erklärt Ulrich Thalhofer, Personalchef bei Liebherr-Aerospace. Wichtig für diese Aufgabe sei es, über Methodenkompetenz und gesunden Menschenverstand zu verfügen. „Dabei kann auch die Erfahrung aus der Schule helfen“, sagt Thalhofer. Oftmals sei es ein Vorteil, wenn ein Mensch von außen auf die Abläufe blicke. „Eine neue, unverstellte Sicht ist wertvoll“, sagt Thalhofer.
Die Liebherr-Aerospace Lindenberg GmbH nimmt zum zweiten Mal einen Lehrer für ein Jahr bei sich auf. Für diese Zeit erstattet das Unternehmen das Gehalt des Lehrers. Ein gutes Netzwerk zwischen Schulen und der Wirtschaft sei wichtig, um junge Menschen bei der Berufswahl zu unterstützen, sagt Thalhofer.
Die Lehrer sollen in ihrem Wirtschaftsjahr einmal über den Tellerrand hinausblicken. „Ein Manko, das wir haben, ist, dass Lehrer nach der Schule studieren und dann wieder in die Schule gehen. Die müssen da auch mal raus“, glaubt Thalhofer, der selbst aus einer Lehrerfamilie kommt. Ein weiterer Grund, wieso Stöberl bei dem Projekt mitmacht, ist die ständige Lehrerschelte. „Ihr habt doch vormittags recht und nachmittags frei – diese Frotzeleien nerven. Ein Vater hat einmal zu mir gesagt: Was du machst, hat nichts mit Wertschöpfung zu tun“, sagt Stöberl. Er wollte daher die unterschiedlichen Arbeiten aus erster Hand kennenlernen. Sein Fazit nach einem halben Jahr in der Wirtschaft: „Jeder Stand hat seine Plage.“
Von seinem Wirtschaftsjahr erhofft sich Stöberl auch mehr Glaubwürdigkeit bei seinen Schülern. „Es stimmt schon, was ich denen bisher immer gepredigt habe. Aber jetzt glauben sie es mir wohl eher“, sagt er. Vor seinem ersten Arbeitstag bei Liebherr nahm Stöberl an einem Bewerbungstraining von Personalchefs großer Firmen teil. Dieses Wissen könne er beispielsweise direkt weiter an seine Schüler vermitteln.
Gerade genieße er die Zeit in dem Wirtschaftsunternehmen. „Ich kann wahrscheinlich zum einzigen Mal in meinem Erwerbsleben außerhalb der teuren Ferienzeit in Urlaub fahren.“Außerdem habe er Gleitzeit. „Wenn das Wetter gut ist und ich keine Meetings habe, kann ich auch mal freinehmen.“Das sei etwas, das er als Lehrer nicht kenne.
Die Tatsache, dass er Latein und Englisch unterrichtet und nicht etwa Physik und Mathe, sei kein Nachteil. Als Englischlehrer könne er zudem manchmal helfen, indem er Texte korrekturlese und übersetze.