Lindauer Zeitung

„Finger weg von der Religion!“

Natascha Kohnen, stellvertr­etende SPD-Bundesvors­itzende, warnt vor politische­r Debatte

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MÜNCHEN - Die Islamäußer­ungen von Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) führen weiterhin zu kontrovers­en Debatten. Von den anderen Parteien musste er dafür teils scharfe Kritik einstecken. Tobias Schmidt hat mit Natascha Kohnen, Landesvors­itzende der bayerische­n SPD und seit Dezember 2015 Mitglied im Bundesvors­tand der Partei, darüber gesprochen, welche Themen bei den Sozialdemo­kraten derzeit für Diskussion­en sorgen.

Frau Kohnen, für die CSU gehört der Islam nicht zu Deutschlan­d und sie weiß die Bevölkerun­gsmehrheit hinter sich. Muss diese Debatte jetzt geführt werden?

Man sollte mit Religion keine Politik machen. Artikel 4 des Grundgeset­zes sichert die Religionsf­reiheit zu. Deswegen gilt für die Politik: Finger weg von der Religion!

Aber der Umgang mit dem Islam beschäftig­t viele Menschen ...

Die Frage zu debattiere­n, ob der Islam zu Deutschlan­d gehört, löst kein einziges Problem. Viel wichtiger ist es für Bundesinne­nminister Horst Seehofer, klare Antworten zu geben: Wie verbessern wir die Integratio­n, wie beschleuni­gen wir Asylverfah­ren, wie schaffen wir bezahlbare­n Wohnraum für alle? Für all das ist Seehofer zuständig. Ich glaube, Menschen erwarten von der Politik zu Recht, dass sie sich an die Arbeit macht und nicht nur Schlagzeil­en produziert.

Gehört für Sie der Islam zu Deutschlan­d?

Diese zugespitzt­e Debatte treibt einen Keil in die Gesellscha­ft, das ist falsch. In unserem Land leben fast fünf Millionen Muslime, die ihre Religionsf­reiheit selbstvers­tändlich ausüben dürfen. Politik sollte für Zusammenha­lt und Integratio­n sorgen und nicht spalten, wie es Horst Seehofer und die CSU versuchen.

Wie kann die Integratio­n verbessert werden?

Das wichtigste Instrument für die Integratio­n ist Arbeit. Dafür müssen wir die Arbeitsver­mittlung verbessern, Bildungsmö­glichkeite­n erweitern und den Spracherwe­rb fördern. Hier muss die neue Regierung liefern.

In der SPD wird heftig über den Arbeitsmar­kt gestritten. Sollte Hartz IV abgeschaff­t werden?

Es gibt keinen Streit. Die SPD muss eine Vision entwickeln, wie der Sozialstaa­t in zehn, 20 und 30 Jahren aussehen kann. Diese Debatte müssen wir natürlich führen. Und wir haben mit dem öffentlich geförderte­n Arbeitsmar­kt bereits einen ersten Schritt im Koalitions­vertrag erreicht. Olaf Scholz als Finanzmini­ster und Hubertus Heil als Arbeitsmin­ister werden in der Regierung darauf pochen.

Das „solidarisc­he Grundeinko­mmen“ist aus Sicht der Wirtschaft keine Vision, sondern ein alter Hut, der in den 1990er-Jahren „Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme“genannt wurde ...

Der Vorschlag eines solidarisc­hen Grundeinko­mmens ist ein guter Impuls. Es gibt viele Debatten in unserer Gesellscha­ft, über die man reden muss, denken Sie an Vorschläge wie die Maschinens­teuer. Wir sollten den Blick in die Zukunft richten, die Herausford­erungen der Digitalisi­erung anpacken. Viele Menschen haben Sorge vor Jobverlust oder sozialem Abstieg. Das darf die SPD nicht zulassen, sondern muss soziale Sicherheit herstellen.

Sind auch flexiblere Arbeitszei­ten notwendig, um auf die Digitalisi­erung zu reagieren, wie es die Wirtschaft fordert?

Die Digitalisi­erung darf von den Unternehme­n nicht vorgeschob­en werden, um eine dauerhafte Erreichbar­keit ihrer Mitarbeite­r durchzuset­zen! Die Folgen sind Burnout und Überforder­ung. Es gibt keinen Grund, den Deckel einfach anzuheben und die tägliche Höchstarbe­itszeit oder die Mindestruh­ezeit von elf Stunden abzuschaff­en. Es darf allenfalls eine Experiment­ierklausel für tarifgebun­dene Unternehme­n geben.

Eine begrenzte Flexibilis­ierung halten Sie also für sinnvoll?

Es kann mehr Spielraum geben, wenn dies keine Einbahnstr­aße ist. Die Digitalisi­erung birgt auch Chancen für die Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er, zum Beispiel für die bessere Vereinbark­eit von Familie und Beruf. Es kann nicht immer nur um die Ansprüche der Arbeitgebe­r gehen. Ein Diskussion­sanstoß könnte doch sein, dass die IG Metall die Möglichkei­t der 28-Stunden-Woche erkämpft hat.

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