Trauer nach der Amokfahrt von Münster
48-Jähriger rast mit Campingbus in Menschenmenge – Zwei Tote und viele Schwerverletzte
MÜNSTER - Die Amokfahrt in Münster war offenbar die Tat eines psychisch labilen Mannes. Es gebe keine Hinweise auf ein politisches oder islamistisches Motiv, teilte die Polizei am Sonntag mit. Der Mann habe sich in einem langen Schreiben auch zu Suizidgedanken geäußert. Der 48jährige Jens R., der am Samstagnachmittag in eine Menschenmenge vor einem Lokal in Münster gerast war, war offenbar auch dem Gesundheitsamt Münster wegen psychischer Probleme bekannt. Infolge seiner Tat starben zwei arglose Menschen, über 20 Personen wurden verletzt.
Ende März habe sich der Mann mit einer E-Mail unter anderem an einen Nachbarn gewandt, teilte die Polizei am Sonntag mit. „Aus dem Inhalt ergaben sich vage Hinweise auf suizidale Gedanken, aber keinerlei Anhaltspunkte für die Gefährdung anderer Personen.“WDR, NDR und „Süddeutsche Zeitung“berichteten zudem über ein weiteres 18-seitiges Schreiben, das in der Wohnung des 48-Jährigen im sächsischen Pirna gefunden worden sei. Darin verarbeite er Kindheitserlebnisse und frühe, von ihm als demütigend empfundene Erfahrungen. Der Polizeipräsident von Münster, Hajo Kuhlisch, sagte, die Ermittler gingen davon aus, „dass die Motive und Ursachen in dem Täter selber liegen“. Der Mann soll aus dem sauerländischen Olsberg stammen und als Industriedesigner in Münster gelebt haben.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul bekräftigte am Sonntag bei einem Besuch am Tatort, mit hoher Wahrscheinlichkeit habe ein Einzelner gehandelt. Zur „Schwäbischen Zeitung“sagte der CDU-Politiker: „Bisher wissen wir, dass es sich um einen deutschen Staatsbürger handelt, dass er kein Ausländer, kein Flüchtling ist.“Reul betonte, es werde nie absolute Sicherheit geben, aber: „Wir müssen die Gefahren ernst nehmen und besonders auch die Innenstädte sichern. Jede Stadt, jede Gemeinde muss selbst vor Ort prüfen, was dabei erforderlich, praktisch und angemessen ist.“
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sprachen am Sonntag vor Ort Opfern und Angehörigen ihr Mitgefühl aus. „Es handelt sich um ein feiges und brutales Verbrechen“, sagte Seehofer zur „Schwäbischen Zeitung“. Er dankte Polizei und Sicherheitskräften – und den Medien, die sich verantwortungsbewusst verhalten hätten. Laschet lobte die Besonnenheit und Solidarität der Münsteraner. Für die Angehörigen sei die Religion der Täter egal, sie hätten einen Menschen verloren.
Empörung herrschte über Äußerungen der AfD-Politikerin Beatrix von Storch und des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Von Storch hatte unmittelbar nach den ersten Meldungen über die Amokfahrt den Satz „Wir schaffen das“von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Flüchtlingszuzug zitiert und nahegelegt, ein Flüchtling sei für die Tat verantwortlich. Erdogan hatte indirekt auf angebliche kurdische Terroristen hingewiesen.
Jens R. war am Samstag um 15.27 Uhr mit einem Campingbus im Zentrum von Münster in eine Menschengruppe vor der Gaststätte Großer Kiepenkerl gerast, danach hatte er sich im Wagen erschossen. Bei den Todesopfern handelt es sich um eine 51-Jährige aus dem Kreis Lüneburg (Niedersachsen) und einen 65-jährigen Mann aus dem Kreis Borken (Nordrhein-Westfalen). Mindestens drei der mehr als 20 Verletzten schwebten zunächst weiter in Lebensgefahr. „Wir hoffen inständig und beten dafür, dass die Verletzten wieder gesund werden“, sagte Horst Seehofer.
BERLIN - Fassungslos stehen die Menschen vor dem grauenhaften Geschehen in Münster. Andreas Herholz hat mit dem Kriminologen Christian Pfeiffer gesprochen und ihn gefragt, wie es seiner Einschätzung nach zum Ausbruch solcher Gewalt kommen kann.
Herr Professor Pfeiffer, in Münster hat ein 48-jähriger Mann zwei Menschen getötet und 20 verletzt und sich selbst erschossen. Wie kommt er dazu?
Der Täter hat alle Merkmale eines Amokläufers. Offenkundig ist er beruflich weitgehend gescheitert, ein Einzelgänger, ein einsamer Wolf ohne soziale Bindung und sozialen Erfolg. Von anderen Menschen wird er eher gemieden, weil er auf sie aggressiv und schwierig wirkt. Zunächst mündete das bei ihm in einen erfolglosen Selbstmordversuch. Aber aus so einer Ohnmachtserfahrung kann sich dann gekoppelt mit Wut auf alle, die er für sein Scheitern verantwortlich macht, der Wunsch nach Macht entwickeln. Der Amokläufer möchte Herr über Leben und Tod anderer Menschen sein, möchte die Panik in ihren Augen sehen, wenn er sie mit tödlicher Wucht angreift. Das soll ihn entschädigen für all die Niederlagen und Demütigungen, für die er andere verantwortlich macht.
Läuft das jetzt bei uns ähnlich ab wie in den USA, wo es immer wieder solche Amokläufe gibt?
Nein. Zum einen konnte der Täter von Münster vorher nicht in ein Waffengeschäft gehen und sich einfach ein Schnellfeuergewehr kaufen. Er hatte eben nur eine Pistole und musste sich deshalb auf die tödliche Wucht seines Autos beschränken. Wir müssen dankbar für unser strenges Waffenrecht sein. Zum anderen gibt es bei uns keine derartige Häufung von Amoktaten wie in den USA, wo sie pro einer Million Menschen fünfmal öfter geschehen. Die grauen- haften Taten von Erfurt, Winnenden oder München sind auch bei uns geschehen. Aber niemand ist deswegen bei uns auf die Idee gekommen, die Lehrer bewaffnen zu wollen.
Hatte der Täter von Münster möglicherweise den Plan, einen Sprengsatz einzusetzen?
Es sieht fast so aus, weil er diese Polen-Böller gehortet hat. Aber offenkundig verfügte er nicht über das technische Wissen, ob und wie man daraus eine Bombe basteln könnte. So blieb ihm am Ende nur das Ziel, unmittelbar vor seinem geplanten Selbstmord möglichst viele Menschen mit dem Auto als Waffe zu töten oder zu verletzen.
Hat er sich nicht in seiner Vorgehensweise an dem orientiert, was islamistische Terroristen ihm in verschiedenen Anschlägen vorgelebt haben?
Ja, es hat ganz den Anschein. Aber es spricht nichts für die These, dass er mit seiner Tat eine politische Botschaft verbunden hat. Zumindest hat die Polizei bisher keinen in diese Richtung gehenden Abschiedsbrief gefunden. Damit bleibt das Zwischenfazit, dass wir solche Taten psychisch angeschlagener Menschen, die aufgrund ihres vielfach gescheiterten Lebens in ohnmächtige Wut geraten sind, kaum verhindern können. So bleibt nur die Einschätzung, dass sie relativ selten geschehen und bei uns wegen des strengen Waffenrechts geringere Wirkung entfalten als in den USA. Aber das ist nicht wirklich ein Trost angesichts der Toten und vielen Verletzten.