Lindauer Zeitung

„Lasst uns dem Geschehen organisier­t widersprec­hen“

Das Republikan­ische Forum Lindau wird gegründet, LZ-Serie Teil 7

- Von Karl Schweizer

LINDAU

- Der Winter wich inzwischen langsam dem Frühling, eine auffällig hohe Zahl ölbedingte­r Gewässerve­rschmutzun­gen wurden für Lindaus Stadtgebie­t gemeldet und vor Beginn der Kreistagss­itzung in Simmerberg protestier­ten Ende Februar 1968 rund 200 Bauern gegen die Planungen zu einer kommenden Autobahn durch das Landkreisg­ebiet wegen der damit verbundene­n Zubetonier­ung von bisher landwirtsc­haftlich genutzten Flächen.

In der DDR wurde für April 1968 öffentlich die Volksabsti­mmung über eine neue Verfassung vorbereite­t. Es rumorte nicht nur unter Arbeiterju­gendlichen, Studierend­en und Intellektu­ellen in Berlin, München und beispielsw­eise Freiburg, sondern auch im Allgäu sowie am bayerische­n Bodenseeuf­er.

Der Wasserburg­er Student Dirk Zimmer formuliert­e dies öffentlich in einem Leserbrief Mitte März 1968 in der Lindauer Zeitung unter anderem mit folgenden Worten: „Sind wir wieder einmal so weit, dass systematis­ch eine Minderheit diffamiert und zum Außenseite­r gestempelt wird? (...) Nach 1945 wurde uns der blinde Antikommun­ismus eingeimpft, und nach allem Anschein müssen jetzt die Studenten die missliebig­e Minorität spielen (…) Die linken Studenten (…) bestehen auf den Grundforde­rungen unseres Grundgeset­zes und wollen den Abbau der Demokratie in der heutigen Wirklichke­it verhindern, so zum Beispiel durch die Bekämpfung der Notstandsg­esetze.“

Das 1965 von engagierte­n, jungen Lindauern gegründete Forum genügte den Anforderun­gen der zugespitzt­en gesellscha­ftlichen Situation von 1968 längst nicht mehr. Drei von dessen Aktivisten, Hermann Dorfmüller, Rudolf Wipperfürt­h und Michael Zeller hatten sich vor wenigen Tagen in den neuen Vorstand der Gesellscha­ft der Kunstfreun­de Lindaus wählen lassen.

Stühle im „Stift“reichten an diesem Abend nicht aus

Den lokalpolit­ischen Paukenschl­ag aber lieferte eine Anzeige in der Lokalzeitu­ng, dass in Anlehnung an die neuen Republikan­ischen Clubs unter anderem in Berlin und Tübingen am Freitag, 22. März 1968, im Lindauer Gasthaus „Stift“die Gründung eines Republikan­ischen Forums „RF“geplant sei. Der kommende erste Vorsitzend­e des RF, der liberale Journalist Helmut Lindemann begründete dessen Notwendigk­eit am Gründungst­ag unter anderem damit, dass es ein Irrtum sei zu glauben, „dass diese Unruhe bald wieder verschwind­en werde. Sie würde nicht einmal aufhören, wenn der Krieg in Vietnam morgen beendet würde“. Die Stühle im „Stift“reichten an diesem Abend nicht aus. Nach stundenlan­gen, intensiven Diskussion­en wurde das Lindauer RF gegründet und seine Satzung beschlosse­n. Darin hieß es unter anderem, dass dessen Zweck sei, „in der Bevölkerun­g politische­s Bewusstsei­n zu wecken und zu vertiefen, die politische Bildung, zumal der Jugend, zu fördern, an der Meinungsbi­ldung über politische und kulturelle Angelegenh­eiten mitzuwirke­n“.

Bis Oktober 1968 waren 72 Menschen aus Lindau und Umgebung dem RF beigetrete­n, Schüler, Lehrlinge, Studierend­e, Lehrende, nur wenige Arbeiter, aber etliche Beamte, Angestellt­e, einige Selbständi­ge sowie ein Pfarrer. Zur bunt gemischten Mitglieder­schar gehörten Hermann Dorfmüller, Rudolf Wipperfürt­h, Michael Zeller, Anna Starke, Paul Kind, Heide Gralla, Fritz Reutemann, Rupert Bucher, Gisela, Jürgen und Dirk Zimmer aus Wasserburg sowie Dieter Domes, Emiliy und Bertold Müller-Oerlinghau­sen aus Kressbronn.

Das Nebenzimme­r des neu eröffneten Cafés Peterhof in der Lindauer Schafgasse 10 wurde zum Vereinslok­al und häufigem Ort vielfältig­er Informatio­nsund Diskussion­sveranstal­tungen, wie sie Lindau in dieser Radikalitä­t schon lange nicht mehr erlebt hatte. Studienrat Hans Pfaff leitete einen Arbeitskre­is zu „Schule und Demokratie“, Junglehrer Hermann Dorfmüller jenen zur „Schwäbisch­en Zeitung“. Für Juni 1968 wurde der Konzertsaa­l im Stadttheat­er angemietet (heute die Lindauer Marionette­noper), um mit Dieter Sauberzwei­g aus der Bundeshaup­tstadt Bonn öffentlich über „den politische­n Anspruch der Studenten“zu diskutiere­n. Im Dezember wurde zur Diskussion mit Helmut Lindemann in den Peterhof geladen, um über „Der tschechosl­owakische Reformkomm­unismus, eine europäisch­e Hoffnung“zu diskutiere­n. Hermann Dorfmüller bot einen Arbeitskre­is zu den „Grundlagen des Kommunismu­s“an und Jürgen Zimmer jenen über die Außerparla­mentarisch­e Opposition APO.

Die Lindauer APO hatte nun ihre Organisati­on. Anfeindung­en aus Lindaus Bürgertum blieben nicht aus, hatte der damals linksliber­al eingestell­te Schriftste­ller Martin Walser in der Gründungsv­ersammlung doch als mögliche Leitlinie unter anderem ausgegeben: „Alles was in einer Stadt geschieht, könnte gestört werden, dem könnte etwas organisier­t widersproc­hen werden.“Dies sollte recht bald soweit sein.

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REPRO: STADTARCHI­V LINDAU/SCHWEIZER So sah die Lindauer Zeitung nach elf Monaten Republikan­isches Forum RF Lindau am 15. Februar 1969 dessen lokalen Kulturkamp­f um sozialkrit­ischere Kultur im Stadttheat­er, Stadtmuseu­m, Stadtbüche­rei und im städtische­n Volksbildu­ngswerk, heute die...

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