„Viele Opfer fühlen sich wie Kollaborateure“
Leben in Unterwerfung - Andrea Eckert spricht über die Folgen langanhaltender Traumatisierung
LINDAU - Die Entführungsopfer Natascha Kampusch, Jan Philipp Reemtsma oder die Kinder der Sekte Colonia Dignidad haben eins gemeinsam: Sie alle mussten in Unterwerfung leben. Sie mussten mit ihren Peinigern zusammenleben und kooperieren, um zu überleben. Wie das gelingt und welche Folgen langanhaltende Traumatisierungen haben, behandelt Psychoanalytikerin Andrea Eckert in einem Kurs bei den Lindauer Psychotherapiewochen. LZ-Redakteurin Yvonne Roither hat sich mit ihr unterhalten.
Wann spricht man von langanhaltender Traumatisierung?
Im Gegensatz zu einer einzelnen überwältigenden schmerzhaften Erfahrung, hat diese Traumatisierung fast etwas Normales, Alltägliches. Sie ist ein dauerhafter Zustand, der eine Form der Anpassung benötigt, um ihn überstehen zu können. Nehmen wir als Beispiel Kinder, die regelmäßig Gewalt erleben. Sie erwarten die Schläge schon – und irgendwann weinen sie auch nicht mehr.
Was für Beispiele sprechen Sie in Ihrem Kurs an?
Es geht um Gefangenschaft, Geiselnahme und Entführung, aber auch um den Freiheitsentzug, den Sekten ausüben. Ganz konkret geht es um Natascha Kampusch, Jan Philipp Reemtsma, Sektenkinder und KZ-Insassen, deren Fälle ich anhand von filmischen und literarischen Beispielen behandle.
Was hat Sie an diesem Thema gereizt?
Die Frage, die auch die Opfer die ganze Zeit beschäftigt: Wie kommt man aus dieser Situation wieder raus? Ein Leben, das von alltäglicher Gewalt, Willkür und Lebensbedrohung gekennzeichnet ist, zwingt zu ganz besonderen Maßnahmen, um zu überleben.
Was sind das für Maßnahmen?
Ums überleben zu können, müssen sie eine Form der Beziehung mit dem Täter eingehen, sie müssen kooperieren. Anpassung und Unterwerfung sind lebensnotwendig. Besonders belastende Momente überstehen sie, indem sie sie von sich abspalten: Sie tun dann so, als wären sie nicht dabei, wenn sie geschlagen oder missbraucht werden. In der Fachsprache heißt dieser Schutzmechanismus Dissoziation. Es hilft in solchen Extremsituationen aber auch, sich kleine Freiräume zu schaffen. Mit der Imagination kann man sich eine innere Welt schaffen, zu der der Täter keinen Zugang hat. Reemtsma hielt beispielsweise in Gedanken Vorlesungen, Kampusch spielte Schule. Lebensrettend kann auch sein, sich etwas Selbstbestimmung zu wahren. Reemtsma sicherte sich diese mit einer Flasche, die er versteckte. Er wusste, dass er sich mit deren Glasscheiben zur Not selbst töten könnte. Das gab ihm das Gefühl, Macht über das eigene Leben zu haben.
Sie sagen, dass die Opfer mit den Tätern kooperieren müssen, um zu überleben. Gelingt das allen Opfern?
Der Überlebenstrieb regt sich in allen. Als Baby sind wir vollkommen hilflos, als Kinder lernen wir schon früh zu kooperieren. Diesen inneren Überlebensmechanismus können Menschen in Extremsituationen aufrufen, es ist ein Rückgriff auf die kindliche Verfasstheit.
Natascha Kampusch war achteinhalb Jahre in Gefangenschaft. Empfinden solche Opfer diesen Zustand nicht irgendwann als normal?
Der Dokumentarfilm von Martin Farkas und Matthias Zuber über die Sektenmitglieder der Colonia Dignidad zeigt ganz deutlich: Selbst Kinder, die in diese Sekte hineingeboren wurden, spürten: Es ist nicht richtig. So geht es auch anderen Opfern. Sie realisieren auch den Freiheitsentzug – auch wenn sie nie etwas anderes kennengelernt haben.
Natascha Kampusch hatte die Möglichkeit zur Flucht. Warum nutzte sie sie nicht?
Mit der Zeit entsteht eine Art Bindung, da die Opfer ja gezwungen sind, eine Beziehung zu ihrem Peiniger einzugehen. Außerdem ist auch der schlimmste Täter nicht immer nur ein Monster. Aber er stellt das Draußen immer als etwas Schlimmes dar. Kampuschs Entführer erzählte ihr, dass ihre Eltern nicht nach ihr suchen und dass ihr draußen ohnehin niemand glauben würde. So entsteht auch eine Art inneres Gefängnis. Als Natascha Kampusch mit ihrem Entführer in eine Polizeikontrolle kam und so die Chance zur Flucht hatte, hatte sie Angst, dass ihr bewaffneter Peiniger den Polizist erschießt.
Die Öffentlichkeit hat für ein solches Verhalten nicht immer Verständnis ...
Kampusch bekam viel Häme, als sie ans Grab ihres Peinigers gegangen ist. Für sie war das notwendig, um abzuschließen. Dass die Opfer kooperiert haben, nehmen sie sich selbst übel. Sie fühlen sich wie Kollaborateure und fühlen sich beschmutzt.
Kann so eine traumatisierte Seele jemals wieder heilen?
Es gibt schwere Brüche, die nicht zu heilen sind. Reemtsma hatte einen Monat Todesangst: Dieses Wissen über menschliche Abgründe lässt sich nicht mehr zurücknehmen, das Urvertrauen in den Mensch ist nicht mehr da. Aber sie arbeiten sich wieder ins Leben zurück.
Wie können Therapeuten solchen traumatisierten Menschen helfen?
Eckert: Am Anfang geht es nur darum, sie zu stabilisieren. Der Fokus muss zunächst auf der Frage liegen, wie der Mensch es geschafft hat, aus der Situation rauszukommen. Als Therapeutin verstehe ich mich als Brücke in die andere Welt. Meine Aufgabe ist das Zuhören und nicht irgendetwas besser zu wissen als der Mensch, der sich nun – ohne jegliches Vertrauen zu haben –, in einer anderen Welt zurechtfinden muss. Aufgabe der Therapie ist es, gemeinsam ein vernünftiges Maß an Vertrauen und Misstrauen zu erarbeiten, ohne mit dem oft vorhandenen Kontrollbedürfnis andere zu verstören. Denn wir bleiben immer soziale Wesen und brauchen den Kontakt zu anderen.
Muss man sich zwangsläufig traumatischen Erlebnissen stellen oder kann man verdrängte Erlebnisse nicht auch verdrängt lassen?
Der Mensch kann Wahrnehmungen, Gefühle und ganze Situationen abspalten. Das ist ein wichtiger Schutzmechanismus der Seele. Aber erst wenn das Erlittene realisiert wird, kann es zur Vergangenheit werden. Solange es nicht realisiert ist, taucht es immer wieder ungewollt auf als Flashback oder Albtraum. Traumabearbeitung im Sinne einer intensiven und strukturierten Auseinandersetzung mit bestimmten Situationen ist immer darum bemüht, dass es zu keiner ReTraumatisierung kommt. Manchmal ist das Wichtigste, dass die traumatischen Ereignisse eingebettet werden in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang. Es darf in der Therapie alles ausgesprochen werden, was man in keinem anderen Kontext oder keinem anderen Menschen sagen würde, weil man diese nicht belasten will.