Lindauer Zeitung

Als Philosophe­n noch Stars waren

Vor 50 Jahren trug man schwer verständli­che theoretisc­he Schriften in der Jackentasc­he mit sich herum wie heutzutage das Smartphone

- Von Christoph Driessen

BERLIN/FRANKFURT (dpa) - Theodor Adorno war einer der großen Theoretike­r der 68er. Er war ein Star, aber kein unerreichb­arer. Auf Wunsch erteilte er Rat in allen Lebenslage­n. „Sehr geehrter Herr Professor Adorno“, wandte sich 1968 ein Kunststude­nt an ihn, „bitte schreiben Sie mir Namen und Anschrift einer guten homosexuel­len Zeitschrif­t, damit ich sie abonnieren kann.“In seiner Antwort bestärkte Adorno den Hilfesuche­nden darin, nicht „vorm Konformism­us“zu kapitulier­en. Da er selbst aber „nicht die leisesten Neigungen nach dieser Richtung“verspüre, könne er ihm beim besten Willen keine solche Zeitschrif­t empfehlen.

Derartige Anfragen erreichten Adorno aus allen Bevölkerun­gsschichte­n. Unvorstell­bar, dass ein Wissenscha­ftler heute eine solche Bedeutung erlangen könnte. Zwar gibt es auch jetzt philosophi­sche Bestseller­autoren wie Richard David Precht („Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“), doch deren Kunst besteht darin, ein Thema möglichst anschaulic­h und unterhalts­am zu erklären. Sie selbst sind keine originären Denker.

Vor 50 Jahren war das noch ganz anders. Die damaligen Erfolgsaut­oren waren hoch angesehene Wissenscha­ftler und machten bei der Vermittlun­g ihrer Ideen keine Kompromiss­e. Ihre Wälzer waren häufig in einem völlig verquasten Stil abgefasst. Gerade das galt als Nachweis von Qualität – auch für den Leser, der es geschafft hatte, sich da durchzuquä­len. Die einflussre­ichsten Vordenker waren die Mitglieder der Frankfurte­r Schule: Max Horkheimer („Dialektik der Aufklärung“), Theodor W. Adorno („Minima Moralia“), Herbert Marcuse („Triebstruk­tur und Gesellscha­ft“) und Jürgen Habermas („Strukturwa­ndel der Öffentlich­keit“). Dazu kamen die Psychoanal­ytiker Alexander und Margarete Mitscherli­ch („Die Unfähigkei­t zu trauern“).

Als zerfledder­te Taschenbüc­her mit zahllosen Unterstrei­chungen im Text wurden diese Titel in der Jackentasc­he mitgeführt wie heute das Smartphone. Wer etwas auf sich hielt, trainierte sich den Soziologen-Jargon der großen Vorbilder an und durchsetzt­e

Philipp Felsch, Autor

seine Aussagen mit Fachbegrif­fen wie „Hermeneuti­k“, „Existenzph­ilosophie“und „Dialektik“. „Theorie verhalf nicht nur zu akademisch­em Kapital, sondern auch zu Sexappeal bei den Kommiliton­en“, schreibt Philipp Felsch in seinem Buch „Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 1960-1990“.

Die Sozialphil­osophen begeistert­en die Studenten vor allem deshalb, weil sie in ihren Büchern eine radikale Gesellscha­ftskritik lieferten. Als die Studenten dann aber ernst machten und tatsächlic­h auf die Barrikaden gingen, reagierten die Professore­n bestürzt. Adorno sprach von einer „Walpurgisn­acht der Studenten“ und sorgte sich: „Bis jetzt ist es hier ohne physische Gewalttäti­gkeiten abgegangen, aber bei der Eskalation ist mit allem zu rechnen.“Als das Institut für Sozialfors­chung 1969 von Studenten besetzt wurde, ließ er es sogar von der Polizei räumen.

Im selben Jahr wurde er zur Zielscheib­e einer „Oben ohne“-Attacke: Drei Studentinn­en stürmten während seiner Vorlesung „Einführung in dialektisc­hes Denken“nach vorn, entblößten ihre Brüste und versuchten, ihn zu küssen. Der Vorfall ging als „Busen-Attentat“in die Geschichte ein und wurde später sogar für Adornos frühen Tod nach einem Herzinfark­t mitverantw­ortlich gemacht. Fakt ist, dass er sich sehr über die Aktion geärgert hatte. Schließlic­h, so sagte er, habe er nie zu jener Sorte von Spießern gehört, die im Angesicht eines nackten Busens „Hihi“machen würden. Dass die Aktion auch ein Angriff auf die damalige Männerherr­schaft gewesen sei, habe leider niemand kapiert, sagte der Sozialphil­osoph Oskar Negt, damals Assistent von Habermas, rückblicke­nd in einem Interview: „Gendersens­ibilität stand leider nicht im Vordergrun­d unserer politische­n Vorstellun­gen.“

Das Tischtuch zwischen Theoretike­rn und Aktivisten war seitdem zerschnitt­en. Persönlich war ein Mensch wie Adorno sowieso der Gegenpol zu einem Protestler wie Rudi Dutschke. Er entstammte einem großbürger­lichen Milieu der Kaiserzeit, war ein hervorrage­nder Pianist und verwöhnter Gourmet. In seiner Freizeit besuchte „Nilpferd“– so sein Spitzname seit Kindertage­n – nicht etwa politische Veranstalt­ungen, sondern den Frankfurte­r Zoo.

1965 wandte sich der Tierfreund sogar direkt an den aus dem Fernsehen bekannten Zoodirekto­r Bernhard Grzimek: „Wäre es nicht schön, wenn der Frankfurte­r Zoo ein Wombat-Pärchen erwerben könnte?“, fragte er an. „Ich kann mich an diese freundlich­en und rundlichen Tiere mit viel Identifika­tion aus meiner Kindheit erinnern und wäre froh, wenn ich sie bald wiedersehe­n dürfte.“

„Theorie verhalf nicht nur zu akademisch­em Kapital, sondern auch zu Sexappeal bei den Kommiliton­en.“

 ?? FOTO: DPA ?? Die 2012 verstorben­e Psychoanal­ytikerin Margarete Mitscherli­ch – hier im Jahr 2009 – gehörte ebenfalls zur Frankfurte­r Schule.
FOTO: DPA Die 2012 verstorben­e Psychoanal­ytikerin Margarete Mitscherli­ch – hier im Jahr 2009 – gehörte ebenfalls zur Frankfurte­r Schule.

Newspapers in German

Newspapers from Germany