Lindauer Zeitung

Leben retten ist für viele Kliniken zu teuer

Über 1400 Menschen in Bayern warten auf eine Transplant­ation

- Von Ruth van Doornik

MÜNCHEN - Das Ausgeliefe­rtsein, das Schwinden der Kräfte, die Todesangst: Peter Fricke, 62, hat dieses Drama dreimal durchlebt. Einmal, als er vor 28 Jahren nach einer Herzmuskel­entzündung auf ein neues Organ wartete. Zweimal als Vater einer Tochter, die mit 20 Jahren nach derselben Erkrankung ihr erstes Herz transplant­iert bekam, und deren Körper es fünf Jahre später wieder abstieß.

Dreimal fand sich ein Spender. „In der Nacht zu ihrem 26. Geburtstag wurde Julia operiert“, erzählt Fricke, Vorstandsv­orsitzende­r des Bundesverb­ands der Organtrans­plantierte­n. Für die Mutter eines kleinen Sohnes begann ein neues Leben.

So viel Glück hat nicht jeder. Derzeit stehen in Deutschlan­d mehr als 10 000 Patienten auf der Warteliste von Eurotransp­lant. Jeden Tag sterben drei von ihnen, weil für sie kein Spenderorg­an gefunden wurde. Vergangene­s Jahr nahm die Zahl der Organspend­er nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtrans­plantation bundesweit um sieben Prozent auf 797 ab und erreichte damit den niedrigste­n Stand seit 20 Jahren. Die einzig positive Ausnahme ist Bayern. Hier stieg die Zahl der Organspend­er um 18 Prozent auf 143. Rund 1400 Patienten warten derzeit auf eine Transplant­ation.

Spezialist­en werden freigestel­lt

Gesundheit­sministeri­n Melanie Huml (CSU) macht für die Trendwende im Freistaat das bayerische Gesetz zur Ausführung des Transplant­ationsgese­tzes mitverantw­ortlich. Zwar wurden in anderen Bundesländ­ern auch Transplant­ationsbeau­ftragte in den Kliniken ernannt, die sich um Organspend­en kümmern sollen. Aber nur im Freistaat gibt es seit 2017 eine konkrete Regelung zu deren Freistellu­ng von anderen Klinikaufg­aben, die abhängig von der Intensivbe­ttenzahl ist. „Die Arbeit als Transplant­ationsbeau­ftragter im Krankenhau­s ist im hektischen und dicht gefüllten Klinikallt­ag nur leistbar, wenn ausreichen­d Zeit zur Verfügung steht“, so Huml.

Die rund 240 Ärzte sollen in den knapp 200 bayerische­n Entnahmekl­iniken potenziell­e Spender erkennen, das Personal schulen, die Angehörige­n betreuen und Leitlinien zur Einleitung und zum Ablauf einer Organspend­e erarbeiten.

Doch während Ministerin Huml Bayern bereits als Vorzeigela­nd feiert und in den Koalitions­verhandlun­gen in Berlin eine bundeseinh­eitliche Regelung zur verbindlic­hen Freistellu­ng der Transplant­ationsbeau­ftragten durchsetze­n konnte, werten Experten in den Kliniken das Gesetz nur als einen Schritt in die richtige Richtung. „Natürlich werden die Häuser so aktiv für das Thema sensibilis­iert. Aber nur, weil der Beauftragt­e jetzt mehr Zeit hat, um durch die Stationen zu gehen, wird es nicht deutlich mehr Spender geben“, sagt Professor Bruno Meiser, Leiter des Transplant­ationszent­rums der Ludwig-Maximilian­sUniversit­ät in München-Großhadern.

„Um wirklich etwas zu ändern, muss an vielen Stellschra­uben gedreht werden – und dafür braucht es einen nationalen Aktionspla­n“, sagt Meiser, der auch Präsident der Stiftung Eurotransp­lant ist, die in acht europäisch­en Ländern die Spenderorg­ane verteilt.

Ärzte fordern mehr Mittel

Statt die Krankenkas­sen Massen von Organspend­eausweisen verschicke­n zu lassen, sollte das Geld lieber in die Kliniken investiert werden. „Denn hier wird nach dem Hirntod eines Patienten mit den Angehörige­n oft nicht über eine mögliche Organentna­hme gesprochen, sondern mit deren Einverstän­dnis die Therapie eingestell­t und das Bestattung­sunternehm­en gerufen“, sagt der Herzchirur­g Meiser. Einer der Gründe: Der Kostendruc­k. Eine Organentna­hme lohnt sich schlichtwe­g nicht. „Die Hürden sind zu groß, die Anreize zu gering“, bringt Meiser die Problemati­k auf den Punkt.

Expertise fehlt in kleineren Häusern

Vor einer Organentna­hme muss zweimal innerhalb von wenigstens zwölf Stunden der irreversib­le Hirntod des Patienten von zwei Ärzten, darunter mindestens einem Facharzt für Neurologie oder Neurochiru­rgie, festgestel­lt werden. „Doch kleinere Kliniken haben diese Expertise nicht und befinden sich in einem Dilemma, wer soll es machen?“, beschreibt Meiser und fordert daher mobile Expertente­ams zur Feststellu­ng des Hirntods.

Doch selbst wenn das Know-how vorhanden ist, wird oft nicht gehandelt. Das erfährt Josef Briegel, Professor für Anästhesio­logie und seit 20 Jahren Transplant­ationsbeau­ftragter in Großhadern, bei Gesprächen mit Kollegen immer wieder. „Sie müssen sich das so vorstellen: Der eigentlich tote Patient belegt ein dringend nötiges Bett auf der Intensivst­ation, bringt das eng getaktete Programm im OP durcheinan­der und bindet das eh schon knappe Pflegepers­onal – das dann für andere Eingriffe fehlt“, beschreibt Briegel. Zwar bekämen Kliniken eine Fallpausch­ale, doch die decke bei Weitem nicht Aufwand und Kosten. Chefärzte, die Zielverein­barungen mit der Klinikleit­ung hätten und ökonomisch­en Zwängen unterlägen, würden sich im Zweifel daher nicht rühren – und einen potenziell­en Spender nicht der DSO melden.

Von der Freistellu­ng des Transplant­ationsbeau­ftragten hält Briegel trotzdem nichts. „Das ist kontraprod­uktiv“, so Briegel. Gerade in mittelgroß­en oder großen Häusern mit mehreren Intensivst­ationen könne ein Einzelner nicht jeden Fall überwachen. „Das Screening ist Teamarbeit. Alle Kollegen müssen motiviert sein.“

Ein Lichtblick zeichnet sich ab. „Die mit einer Organentna­hme an den sogenannte­n Entnahmekr­ankenhäuse­rn verbundene­n Aufwendung­en sollen besser vergütet werden“, kündigt Huml an und verweist auf die Koalitions­verhandlun­gen.

Bruno Meiser geht das nicht weit genug. Er hält die Widerspruc­hslösung, die in vielen europäisch­en Ländern gilt, für überfällig. Hier müssen die Bürger zu Lebzeiten aktiv einer Spende widersprec­hen, ansonsten dürfen die Organe nach dem Tod entnommen werden. „Alle Aufklärung­skampagnen haben nicht wesentlich weitergeho­lfen. Dass viele keinen Organspend­eausweis haben, liegt nicht am Organspend­eskandal, den haben die Leute längst vergessen, sondern daran, dass der Tod ein Tabuthema in unserer Gesellscha­ft ist.“

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FOTO: DPA 143 Organspend­er gab es 2017 in Bayern.

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