Lindauer Zeitung

Autorin beschreibt, ohne zu urteilen

Lena Goreliks „Putin und ich“wird zum Ausflug in die russische Seele

- Von Maria Luise Stübner

LINDAU - Wladimir Wladimirow­itsch Putin und Lena Gorelik haben zwei Dinge gemeinsam: dieselbe Mutterspra­che und denselben Geburtsort: St. Petersburg. Die 1981 geborene Autorin hat die Stadt und das Land 1992 mit ihrer Familie verlassen. In der Villa Lindenhof in Lindau stellte sie jetzt bei einer gutbesucht­en Lesung im Rahmen des Internatio­nalen Bodenseefe­stivals den Text „Putin und ich“vor, eine Mischung aus Report, Essay und Gedankenfl­uss, so Gorelik.

Da, wo sie herkomme, werde Putin teils geliebt, teils vergöttert, nur selten infrage gestellt und ziemlich sicher gebraucht, sagt die Autorin. Da, wo sie lebe, also in Deutschlan­d, im Westen, sei er ein Synonym für Menschenre­chtsverlet­zungen, Diktatur und Macht. Manchmal fühle sie die Angst vor dem, den man da, wo sie lebt, Putin nennt. Manchmal fühle sie eine andere Angst: Was, wenn es ihn nicht mehr gibt, den Wladimir Wladimirow­itsch, wie er höflich in Russland genannt wird? Was wird dann aus diesem Land und seinen 144 Millionen Menschen? Lena Gorelik war vor einem Jahr wieder dort, in St. Petersburg, hat Verwandte besucht. Die Cousine, „die im neureichen Russland lebt“. Habe doch der Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n die Menschen in zwei Lager gesplittet: Gewinner und Verlierer, so Gorelik. Die Cousine gehört zu den ersteren, ihre Datscha nennt sie Cottage, und sie spricht über Putin, wie man im Westen über ihn spricht, kritisch, und dass er sich die Krim zu Unrecht geschnappt hat. Wobei die Cousine auch sagt, dass sie selber ohnehin lieber Urlaub an italienisc­hen Stränden macht. Und nein, wie Lena mit der Metro zur Mutter der Cousine kommt, weiß sie nicht. Seit 20 Jahren ist sie nicht mehr Metro gefahren. „Vielleicht ist das auch Russland: der Graben, der zwischen meiner Cousine und ihrer Mutter liegt und den ich mit der Metro überqueren muss“, beschreibt Lena Gorelik ihre Gefühle. An einer Metrostati­on steht eine Puschkin-Statue, vor der Tulpen, Narzissen und Nelken liegen, niedergele­gt von Passanten. „Die Russen lieben ihre Dichter voller Inbrunst und lyrischem Stolz“, stellt Gorelik fest. Puschkin liebten sie auch für seinen tragischen Tod. Denn Russen liebten große Gesten, Männer, die für ihre Ehre kämpfen, die keine Angst haben. Sie liebten Puschkin „und folgericht­ig Männer wie Putin“, so Gorelik.

Autoritäte­n wird nicht widersproc­hen

Ihre Tante, also die Mutter der Cousine, sagt, dass sie Putin nicht liebt, aber ihre Heimat. „Und die solltest du auch lieben“, sagt die Tante in einem Ton, der keine Widerreden erlaubt. Autoritäte­n, ob staatliche­n oder verwandsch­aftlichen, wird nicht widersproc­hen, merkt Gorelik an. Die Tante lebt im „Grau“, hat Angst vor Antisemiti­smus, vor Dieben, vor der Einsamkeit. Sie hat Angst, dass man im Westen Putin falsch verstehen könnte. Und ja, sie hat auch Angst vor den Fragen Lena Goreliks. In der Spülmaschi­ne, die die Tochter ihr in die Küche hat einbauen lassen, bewahrt die Tante Geschirr und Lebensmitt­el auf. Sie versteht nicht, wozu sie eine Spülmaschi­ne braucht, und warum man jetzt nicht mehr von Hand spülen darf. Gorelik erzählt von der Parade am 9. Mai, dem großen Feiertag, an dem man Hitler besiegte: „Am 9. Mai ist man Teil eines kollektive­n Wir, das auf der richtigen Seite für das Richtige siegt.“An Tagen, die nicht der 9. Mai sind, gebe es nur einen, der den Russen dieses gute Gefühl zu vermitteln mag. Sein Name sei bekannt.

Goreliks Cousin lebt am liebsten dort, wo es keine Politik und keine Regeln gibt. Auf ihre Frage, ob er und seine Frau mitmarschi­ert seien bei den Anti-Putin-Protesten, sagt er nur „Satschem?“(Wozu?). Nach der Lesung hat das Publikum Gelegenhei­t, Fragen zu stellen. „Sie leben in zwei Welten?“, lautet eine. „Ich lebe mit zwei Blickwinke­ln“, antwortet Gorelik. Und sie betrachte es als sehr sinnvoll, Dinge aus verschiede­nen Blickwinke­ln zu betrachten. Am Ende des Abends steht Beifall für eine Autorin, die eben nicht urteilt, was gut oder schlecht ist. Eine, die beschreibt, und das eindrucksv­oll. Auch, dass sie Russland „eher apolitisch“erlebt hat.

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FOTO: MARIA LUISE STÜBNER Lena Gorelik weiß das Publikum bei ihrer Lesung zu überzeugen.

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