Lektionen der Liebe
Victoria Tolstoy und Jacob Karlzon bieten beim Bodenseefestival großartigen Jazz
FRIEDRICHSHAFEN - So uneitel, nahbar, herzlich können Jazzstars sein: Nach gut eineinhalb Stunden eines seelenvollen Auftritts, von zart bis hart, sitzen Victoria Tolstoy und Jacob Karlzon im Foyer des „Kiesel im k42“, vor ihnen CDs und Schallplattenlatten. Signieren, plaudern mit den Konzertbesuchern. Die Schwedin nimmt durstig einen großen Schluck Bier aus dem Glas, das Organisator Jürgen Deeg vom Kulturbüro Friedrichshafen kredenzt. „Ah, the best beer in the world“. Spricht weiter mit den Jazzfreunden, unkompliziert, lachend.
14 Jahre ist es her, da hat die hochgewachsene Victoria Tolstoy, 1974 bei Stockholm geboren, eher als gutaussehendes Jazz-Model gegolten. Eines, das einen großen Namen trägt, technisch perfekt singen kann, aber nicht zur Essenz der Songs vordringt. „So weit so langweilig“, hat damals ein Kritiker über ihren Auftritt bei den JazzOpen Stuttgart geschrieben, „trotz technischer Brillanz schafft es die 30-Jährige nicht zu fesseln, jene magischen Momente entstehen zu lassen, die ein Jazzkonzert unvergesslich machen“.
Schnee von vorvorgestern. Die Ururenkelin des russischen Nationaldichters Leo Tolstoy ist nach ihrem etwas rumpeligen Deutschlandstart zur wirklich großen Sängerin gewachsen. Geerdet auch durch die Geburt ihrer zwei Söhne, wie sie sagt. Die 43-Jährige beherrscht, lebt alle Facetten. Sie geht in die Tiefe wie kaum eine andere. Liebe zartbitter, süß, mit allen Enttäuschungen, und Hoffnungen. Jacob Karlzon glänzt mit grandiosem Spiel am Flügel, in den Spuren von Esbjörn Svensson, der viel zu jung bei einem Tauchunglück ums Leben gekommen ist. Svensson hat den Jazz geöffnet, einen mächtigen, fast rockigen Sound eingeführt. Jazz auch für die Hardrockund Pop-Generation. Mit vielen Zwischentönen, auch zarten. Er war Förderer der jungen Victoria, als sie noch durch die Stockholmer Clubs tingelte, mit Popmusik. Für das Album „White Russian“– spannender als der gleichnamige Drink – schrieb er ihr Songs. Ihrer russischen Wurzeln hat Tolstoy auch mit dem Album „My Russian Soul“gedacht. Karlzon donnert im voll besetzten „Kiesel“kraftvoll das Schwanensee-Thema „Aftermath“, variiert intelligent. Tolstoy fasziniert mit ihrer Stimme, die alles kann, alles will, mit Worten der Göteborger Songwriterin Ana Alerstedt. Ein Highlight. Das Stück passt perfekt zum Motto des Bodenseefestivals 2018: „Russland – Vorwärts zu neuen Ufern.“
Herzschmerz-Kopfkino
Das Publikum, das im „Kiesel“den Künstlern ja sehr nah ist, hört gebannt zu. Karlzon beherrscht den Donner, spielt aberwitzige Tonfolgen, haucht zusammen mit der Sängerin aber auch fast atemlos aus. Wie subtil und zu Herzen gehend Victoria Tolstoy einen eher sterilen 80erJahre-Synthie-Hit interpretieren kann, zeigt sie bei „Lessons in Love“von Level 42. Ganz großes Herzschmerz-Kopfkino.
Nicht minder eindrucksvoll kommen die anderen Lieder aus dem Duo-Album mit Karlzon „A Moment of Now“. Der von Pat Metheny geschriebenen Titelsong hat Substanz, tiefer haftend bleibt Tolstoys Version von „Against all odds“. Komponiert und gesungen von Phil Collins, weltbekannt durch die etwas klebrige Interpretation von Mariah Carey. Bei Tolstoy ist es ein zeitloses Liebeslied mit allen Facetten, „Take a look at me now, it’s just an empty space“. Brüchiges Glück, bittere Hoffnung, Sehnsucht pur. „Shadow and light“von ebendiesem Album bringt ebenfalls Gänsehaut. Träume von Hoffnung und Leidenschaft. Stevie Wonder kommt zu Ehren, auch Herbie Hancock, anfangs Linda Ronstadt. „Wenn sie singt, geht die Sonne auf “, hat Pat Metheny gesagt. Auch an einem etwas regnerischen, kühlen Mai-Abend am Bodensee.